wenn es Zeit ist
Zeitungen.«
»Dann besorge dir schnell eine. Ich rufe in zehn Minuten wieder an und kontrolliere es.« Sie legt wieder auf. Ich beiße mir in die Wangen und ziehe Schuhe an. Diese verfluchte Ziege. Was ist so wichtig, dass sie es mir nicht einfach sagen kann? Warum jagt sie mich aus dem Haus, als hätte ich nichts Besseres zu tun? Sie hat mir noch nicht einmal gesagt, welche Zeitung sie meinte. Ich schlage die Tür fester als nötig hinter mir zu und trample die Treppen lauter als üblich herunter. Die Zeitungen werfe ich, als ich wieder zurück bin, einfach neben das Telefon und setze mich wieder an meine Matheaufgabe. Das Geodreieck verrutscht, während ich den Strich ziehe, und fliegt dafür in die Zimmerecke.
»Scheiße!«, brülle ich, reiße die Seite aus dem Heft und feuere sie in den Papierkorb. »Verfluchter Dreck. Nur wegen dieser blöden Kuh funktioniert jetzt gar nichts mehr.« Ich setze mich auf mein Bett, schließe die Augen und versuche, bis zehn zu zählen. Irgendwo in meinem Kopf sprechen andere Stimmen. ›Es sind nur Zeitungen. – Du hättest nicht gehen müssen. – Warum regst du dich auf?‹ Sie sind leise und sie machen mich wütender. Doch als Michi erneut anruft, melde ich mich sanft.
»Hast du die Zeitungen gekauft?«, fragt sie ohne Umschweife.
»Ich bin ja artig.«
»Und hast du auch reingeschaut?«
»Nein.«
»Wusste ich es doch. Du hast nicht mal auf die Titelseite geschaut!«
»Von welcher Zeitung?«
»Von der Bildzeitung natürlich.« Michi stöhnt am Telefon. »Muss man dir alles vorkauen? Es ist entsetzlich, wie wenig neugierig du bist.«
»Ich bin neugierig. Nur nicht auf dieselben Dinge wie du.« Ich vermisse die Wut. Kurz zuvor hätte ich sie doch am liebsten geschlachtet. Jetzt schlage ich die Zeitung auf und sehe das gleiche Bild wie am Freitag. Kurz schlucke ich.
»Warst du das?«
»Nein«, antwortet Michi. »Ich schwöre.«
Der Ärger kommt langsam zurück. Auf Michi, weil sie mir diesen Artikel unbedin gt unter die Nase reiben musste und auf den Verlag, weil er keine Ruhe gibt.
›Hat das Wunder einen Namen?‹ , prangt in dicken schwarzen Buchstaben über dem Foto. Meine Muskeln zittern, ich balle Fäuste, kaue erneut auf dem Fleisch meiner Wangen.
»Soll ich anrufen und denen sagen, wer du bist?«
»Bist du verrückt?« Ich bin nicht in der Lage zu brüllen, auch, wenn mir danach ist. Ich frage eher tonlos. Michi kann das nicht ernst gemeint haben. »Wenn du da anrufst, hört der Spuk ja nie auf.«
»Okay«, sagt Michi. Den Artikel kann ich nicht lesen. Die Zeilen verschwimmen nur vor meinen Augen, vermischen sich mit Bildern vom nächsten Schultag, von idiotischen Fragen und Sticheleien, die ich über mich ergehen lassen muss. Ich sehe mich umkreist, höre Rufe, spüre das Gedränge derer, die mich schubsen, und fühle meine Faust. Wollte ich nicht unauffällig bleiben? Hatte ich mich nicht so schön sicher eingerichtet in der Unsichtbarkeit? Bin ich nicht dadurch jeder Gefahr, wieder zuzuschlagen, aus dem Weg gegangen?
»Glaubst du mir jetzt endlich?«, unterbricht Michi meine Gedanken. »Alle haben gesehen, dass der Junge ohnmächtig war, einige hielten ihn für tot. Und jeder schwört, das Bein des Jungen war gebrochen.«
»Es war nicht gebrochen.« Immer noch kann ich nicht schreien. Ich wage nur einen le isen Widerspruch, nicht weil ich Michi glaube, sondern weil ich resigniere. »Wenigstens bin ich vorbereitet, wenn sie morgen über mich herfallen.«
»Du bist ein Star, freust du dich gar nicht?«
»Wir können gern tauschen.« Ich kann mich nicht freuen. Ich kann auch nicht mehr reden. Ich muss mit mir allein sein, jetzt mehr denn je. »Sei nicht böse, Michi. Ich muss das erst mal verdauen. Ich melde mich morgen.«
»Okay «, antwortet sie. »Das kann ich sogar verstehen.« Ich höre einen Kuss durch den Hörer, bevor sie wieder auflegt. Ich halte das Telefon noch in der Hand. An die Funktionen, an Geodreieck und Zirkel ist jetzt nicht zu denken. Vielleicht kann ich mich wenigstens auf den Artikel konzentrieren? Ich nehme die Zeitung mit in mein Zimmer, lege mich mit ihr aufs Bett und taste mich über die Buchstaben wie ein Blinder. Martins Mutter hatte sich über die Ausgabe vom Freitag geärgert und verlangte eine Gegendarstellung. Bestimmt hat sie es gut gemeint. Und doch wäre es mir lieber gewesen, sie hätte es dabei belassen, ich hätte die Rettungsarbeiten behindert. Es war doch in Ordnung, solange ich es besser wusste. Sollten
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