wenn es Zeit ist
an, musste er glauben, mich aus dem Tiefschlaf geweckt zu haben, so sehr erschrak ich. Niemals konnte ich die Wahrheit sagen. Hätte ich von den Farben erzählt, hätten sie mich für verrückt gehalten. Ich wäre nicht mehr unauffällig, sondern bekloppt gewesen. Mit etwas Glück hätten sie nur über mich gelacht, doch bei meinem Pech hätten sie mich gereizt, bis ich zurückgeschlagen und wieder jemandem die Knochen gebrochen hätte. Also war es besser, wenn die Lehrer glaubten, ich hätte nicht aufgepasst und mir schlechte Zensuren in ihre Notizbücher schrieben. Die konnte ich mit meinen Arbeiten wieder ausgleichen. Ich hatte ja nicht so viel anderes zu tun, als zu lernen.
Es brauchte Zeit, bis ich nicht mehr voller Anspannung zitterte, wenn Jan sich neben mich setzte, mit mir redete, mich etwas fragte oder einfach schwieg. Es dauerte, bis ich ohne Angst, er würde sterben, mit ihm reden konnte.
Es gab keinen Knackpunkt, kein besonderes Erlebnis. Irgendwann durfte er mir einfach n äher kommen, ohne mich in Panik zu versetzen oder mir den Hals zuzuschnüren.
Von unerfüllten Wünschen (1976)
»Du bist komisch«, stellt Jan fest. »Wir haben sechs Wochen Ferien bei herrlichstem Wetter und du bist blass als hättest du die ganze Zeit nur in der Wohnung gesessen.«
»Habe ich auch.«
»Warum hast du nicht mal angerufen? Wir hätten etwas unternehmen können.«
»Warst du nicht verreist?«
»Doch«, sagt er. »Aber nicht die ganzen Ferien über.«
Mit ihm schwimmen zu gehen, ihn in Badehose sehen und ein bisschen zu hoffen, er bände sich kein Handtuch um die Hüften, wenn er sich umzieht, wäre toll gewesen. Ich hätte ihm vielleicht den Rücken mit Sonnenmilch einreiben dürfen oder ihn bitten können, es bei mir zu tun, ganz unschuldig, aus rein praktischen Erwägungen. Ich hätte seine blaue Farbe betrachten und feststellen können, ob sich unsere verschmelzen würden. Auch, wenn diese Farben für mich nichts Besonderes mehr sind. Vielleicht hätte ich mich mal mit ihm zu einem Fahrradausflug verabreden sollen, mit ihm vor einem kleinen Feuer sitzen oder über einem Campingkocher Dosensuppe erhitzen? Wir hätten nachts im Zelt in vertrauter Gemeinsamkeit über Mädchen geredet, über unsere Wünsche, über Sex und er hätte mir gezeigt, wie er onanierte, oder sehen wollen, wie ich es tue. Was wäre gewesen, hätte er mich gebeten, ihm zu helfen?
Oft, wenn ich im Bett liege, schaffe ich mir Situationen, in denen wir unausweichlich einander zur Hand gehen müssen.
»Du hättest ja auch mal anrufen können«, antworte ich. »Ich hätte mich gefreut.«
»In den nächsten Ferien«, verspricht er. Die nächsten Ferien werden im Herbst sein. Zu kalt für eine gemeinsame Nacht im Zelt, zu kalt dafür gemeinsam in der Sonne zu liegen und sich den Rücken mit Sonnencreme einzureiben. Ungefährlich genug für meine verdorbenen Fantasien. Und doch weiß ich, weder er noch ich werden anrufen. Das haben wir bisher nie getan. Und jedem seiner Versuche, sich nachmittags mit mir zu verabreden, sei es nur, um zu lernen, bin ich bisher erfolgreich ausgewichen. Es passiert Jan nichts, wenn ich mit ihm rede. Aber mit Jörg habe ich einen ganzen Tag verbracht. Auch bei ihm hatte ich dieses dringende Bedürfnis verspürt, ihn zu berühren.
Ich schäme mich genug für meine Fantasien, so schön sie auch sind. Aber Jan darf davon nie erfahren. Bestimmt hielte er mich für abartig, wenn er davon wüsste. Das, was ich möchte, gehört sich nicht.
›Bist du pervers?‹ , höre ich meinen Vater im Schwimmbad und dazu die Ausführungen des Biologielehrers im Sexualkundeunterricht zu den sexuellen Perversitäten, die ekelerregten Ausrufe und Kommentare der Klassenkameraden und die Beschimpfungen ›schwule Sau‹, die bisher nie mir gegolten hatten.
Wir gehen in den Unterricht. Auf der Treppe im Gedränge streift Jans Hand leicht meine. Ein kleiner unauffälliger Glücksmoment.
Von Wirbelstürmen (1976)
Am Nachmittag klingelt das Telefon. Ich sitze gerade über den Hausaufgaben und zeichne mit Zirkel und Geodreieck ein paar Funktionen in mein Mathematikheft. Es kann nur Michi sein. Mama ist noch im Hotel und aus meiner Klasse meldet sich höchstens mal jemand, wenn aus wichtigem Grund die Telefonkette aktiviert wird.
Ich lasse mir Zeit, ziehe den angesetzten Strich zu Ende, bevor ich an den Apparat gehe.
» Henrik Graf.«
»Hast du dir heute eine Zeitung gekauft?«
»Michi, ich kaufe mir nie
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