wenn es Zeit ist
tatsächlich nach Hause, rechtzeitig genug, um zu duschen. Die Hausaufgaben helfen mir, das Wirrwarr zu verdrängen. Ach, wäre Oma jetzt hier, um über meinen Kopf zu pusten und mir zu sagen, was richtig ist.
Vom Vertrauen (1976)
»Was ist los?«, fragt Michi, kaum, dass sie mich erblickt: »Du siehst schrecklich aus.«
Manchmal bedarf es nur eines Anstoßes, einer kleinen Frage oder eines kurzen teilnehmenden Satzes, der die Felsbrocken löst, die sich den Tränen in den Weg gestellt haben.
Michi weiß alles von mir. Wenn mich jemand kennt, dann sie. Aber auch ihr bin ich noch nie um den Hals gefallen und konnte die Tränen nicht stoppen.
Wir stehen im Wohnflur und sie hält mich einfach fest.
»Ich werde verrückt, Michi. Ich werde ganz sicher verrückt.«
»Unsinn. Du bist nur verliebt.«
Woher weiß sie das? Darüber habe ich noch nie mit ihr gesprochen. Sie versucht nicht hilflos, gegen die Tränen anzureden, sondern sie lässt mich weinen. Sie ist da und hört mir zu. Ich setze mich auf einen Sessel im Wohnflur, sie auf die Lehne, den Arm um meine Schulter.
Als ich ihr alles erzählt habe, von Jan , unserem Kuss und sogar von seinem ungewöhnlichem Orgasmus, von dem Brief und der Prophezeiung der Großmutter, dem Gespräch mit meiner Mutter und von dem merkwürdigen Traum, nickt sie nur, anstatt mich mit neugierigen Fragen zu bombardieren.
» Er ist auch in dich verliebt? Das ist natürlich schrecklich.« Ihre spitze Ironie tut mir gut, zwingt mir ein Lächeln auf, bringt ein Stück Normalität zurück. »Du bist nicht verrückt«, sagt sie. »Du bist nur bekloppt. Dabei bist du es doch, der aufs Gymnasium geht.«
Ich zünde mir eine Zigarette an und Michi spürt, sie kann sich auf den zweiten Sessel setzen. »Ihr liebt euch also gegenseitig, aber ihr wollt es bekämpfen?«
»So besehen klingt das natürlich wirklich bekloppt.«
»Es ist bescheuert.«
Ich asche ab, nehme einen neuen Zug und frage mich, ob es wirklich so einfach ist.
»Ich bringe ihn damit um.«
Michi winkt mit der Hand, als stünde ich weit entfernt auf einer anderen Straßenseite. »Hallo, schau mal. Wir sind jetzt seit vier Jahren befreundet und ich lebe immer noch.«
»Du bist ein Mädchen.«
»Eine Frau .«
Erneut muss ich ihretwegen grinsen . »Okay, eine Frau. Es wäre keine Sünde. Und du bist nicht blau.«
Michi stöhnt auf, setzt sich ein Stück nach vorne, fast auf die Kante des Sessels, und beugt sich vor. »Auf den Freizeiten, auf denen ich im Sommer bin, erzählen sie auch immer so einen Blödsinn. In den gleichen Gesetzen steht auch, Männer dürften sich nicht die Haare schneiden oder rasieren. Höre dir mal an, wie diese Leute über langhaarige Hippies schimpfen. Und was Jörg betrifft, es war ein grausamer Zufall. Du hast mit seinem Tod nichts zu tun. Und du hättest ihn nicht verhindern können. Außerdem wart ihr Kinder. Zehn oder elf Jahre alt. Wie hättet ihr da sündigen können?« Sie geht in die Küche. Ich höre eine Schranktür klappen, danach den Wasserhahn, bevor sie mit einem gefüllten Glas zurückkommt und sich wieder so hinsetzt, wie zuvor. Langsam werde ich ruhiger. Ihre Standpauke erdet mich ein bisschen. Es klingt alles so einleuchtend, was sie sagt.
»Aber Jan hat Angst. Nicht einmal ich mochte bisher mit meiner Mutter darüber sprechen. Mit seiner würde ich es an seiner Stelle auch nicht tun.«
»Ja«, antwortet Michi. »Das verstehe ich. Es ist nicht normal. Schwule werden nun mal verachtet. Nicht nur in den Kirchen. Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz, wenn sie sich dazu bekennen. Sie müssen sich in Bahnhofstoiletten treffen oder in den dunklen Ecken des Stadtparks. Ihr müsst vorsichtig sein. Aber hör auf, es in einen düsteren Strudel aus abergläubigen Vorstellungen zu ziehen, es als Prüfung eines Gottes zu betrachten, an den du nicht glaubst.«
Ich drücke die Zigarette aus, atme ein paar Mal tief durch, als nähme ich noch ein paar Lungenzüge nehmen. »Ich bin mir nicht sicher. Er hat mir doch auch diese Kräfte gegeben …«
»Und musstest du dazu an ihn glauben?«
»Ich habe mir ja nicht mal Gedanken darüber gemacht.«
»Das ist egal. Du hast die Kraft. Niemand ist nur gut. Ich habe dich kennengelernt, weil du mich vor jemandem beschützt hast. Und dem hast du dabei brutal den Arm gebrochen. Du neigst zu Jähzorn, selbst auf mich wärest du schon beinahe losgegangen. Dein Vater hat es dir doch auch gar nicht anders beigebracht. Trotz allem hast du diese
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