Wenn Frauen zu sehr lieben
ambivalenten Gefühle – das zusammen schafft einen Teufelskreis. Keinen Partner oder den falschen Partner zu haben, dient uns als Erklärung und Entschuldigung für unsere körperliche Abhängigkeit. Umgekehrt erlaubt uns der kontinuierliche Gebrauch des Suchtmittels, die schädlichen Aspekte unserer Beziehung zu tolerieren, indem wir unsere Schmerzen betäuben. Er beraubt uns zusätzlich jeglicher Motivation, eine Veränderung vorzunehmen. So machen wir das eine für das andere verantwortlich und benutzen das eine, um mit dem anderen fertig zu werden. Von beidem können wir immer weniger loskommen.
Solange wir darauf aus sind, uns selbst zu entrinnen und allen Schmerz zu vermeiden, bleiben wir krank. Je mehr wir uns anstrengen, je verzweifelter wir nach Fluchtwegen suchen, desto kränker werden wir, weil Zwangsverhalten Abhängigkeit noch verstärkt. Schließlich müssen wir erkennen, dass unsere Problemlösungen zu unseren größten Problemen geworden sind.
«Ich bin eigentlich nur hier, weil mein Anwalt mich geschickt hat.» Brenda flüsterte beinahe, als sie mir bei unserer ersten Sitzung dieses Eingeständnis machte. «Ich … ich … na ja, ich hab halt was mitgenommen und bin dabei erwischt worden, und der Anwalt meinte, ich sollte mich vielleicht doch mal an eine Beratungsstelle wenden …» Sie fügte in vertraulichem Ton hinzu: «Es macht auf das Gericht sicher einen guten Eindruck, wenn die glauben, dass ich mir bei meinen Problemen helfen lassen will.»
Ich hatte kaum Zeit, mit dem Kopf zu nicken, ehe sie hastig fortfuhr. «Bloß glaube ich eigentlich nicht, dass ich irgendwelche
Probleme
habe. Ich war in einer kleinen Drogerie, habe ein paar Dinge eingesteckt und einfach vergessen, sie zu bezahlen. Ich finde es ziemlich schlimm, dass die jetzt denken, ich hätte stehlen wollen, aber in Wirklichkeit war es ja nur ein Versehen. Am schlimmsten finde ich die Schande. Aber sonst habe ich überhaupt keine Probleme, und diese Sache mit der Drogerie ist wohl auch eher eine Lappalie.»
Klienten wie Brenda stellen eine der schwierigsten Herausforderungen in der Beratungsarbeit dar: Sie sind nicht genügend motiviert, um Hilfe für sich selbst zu suchen, ja sie leugnen sogar, überhaupt Hilfe zu brauchen; sie kommen nur, weil sie jemand geschickt hat, der therapeutische Betreuung bei ihnen für angezeigt hält.
Während Brenda atemlos weiterredete, stellte ich fest, dass ich ihrem Wortschwall nicht mehr folgen konnte und mochte. Ich sah mir die junge Frau genauer an. Sie war groß, mindestens 1 , 80 Meter, und so dünn wie ein Fotomodell; ich schätzte ihr Gewicht auf höchstens 52 Kilo. Sie trug ein schlicht geschnittenes tiefrotes Kleid, dessen Eleganz durch den schweren Elfenbein-Gold-Schmuck betont wurde. Mit ihren rotblonden Haaren und meergrünen Augen hätte sie eigentlich bildschön sein müssen. All die Zutaten waren vorhanden, aber irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas fehlte. Ihre Augenbrauen waren dauernd zusammengezogen, dazwischen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. Sie hielt häufig den Atem an; die Nasenflügel bebten unaufhörlich. Ihr Haar sah trocken und spröde aus, obwohl es sehr gut geschnitten und hübsch frisiert war. Die Haut wirkte unter der Sonnenbräune wächsern. Ihr Mund hätte breit und voll sein können, aber sie presste die Lippen ständig zusammen, was die gesamte Mundpartie schmal und verkniffen erscheinen ließ. Wenn sie lächelte, schien es, als würde sie einen Vorhang sorgfältig von den Zähnen zurückziehen, und während sie sprach, biss sie ständig auf den Lippen herum. Die Beschaffenheit ihrer Haut und ihrer Haare, aber auch ihr extremes Untergewicht ließen mich vermuten, dass es bei ihr zu Anfällen von Heißhunger mit übermäßigem Essen und selbst eingeleitetem Erbrechen (Bulimie) und/oder der periodischen Verweigerung von Nahrungsaufnahme (Anorexie) kam.
Frauen mit Essstörungen machen sehr häufig auch Phasen von Kleptomanie durch, und das war für mich ein zusätzlicher Hinweis. Außerdem nahm ich an, dass sie Co-Alkoholikerin war. Bei fast allen meinen Klientinnen mit Essstörungen waren entweder ein Elternteil oder beide Eltern Alkoholiker (Letzteres gilt vor allem für Frauen, die zu Bulimie neigten) oder der Vater alkoholsüchtig und die Mutter esssüchtig gewesen. Esssüchtige und Alkoholiker gehen sehr häufig Beziehungen miteinander ein, was nicht überraschend ist; denn viele an Esssucht leidende Frauen sind Töchter von
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