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Wenn Frauen zu sehr lieben

Wenn Frauen zu sehr lieben

Titel: Wenn Frauen zu sehr lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Norwood
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kochen, vor allem, weil er mein Essen ohnehin nicht mag. Was seine Mutter kocht, schmeckt ihm so viel besser, dass er oft mitten beim Essen aufsteht und zu ihr fährt, und dann kommt er erst um zwei Uhr morgens zurück. Ich habe einfach keine Lust, mich furchtbar anzustrengen, um ihn glücklich zu machen, wenn es doch nichts nützt. Aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Viele Frauen sind schließlich um einiges schlechter dran.»
    «Was macht er denn bis zwei Uhr morgens? Er kann doch wohl kaum die ganze Zeit bei seiner Mutter sein», fragte ich.
    «Das will ich überhaupt nicht wissen. Wahrscheinlich geht er noch mit seiner Freundin aus. Aber das interessiert mich nicht. Ich habe es lieber, wenn er mich in Ruhe lässt. Wenn er nachts endlich nach Hause kommt, sucht er oft Streit mit mir. Eher deshalb – weil ich dann morgens bei der Arbeit immer so müde war – und nicht wegen seiner Affäre habe ich ihn schließlich gebeten, doch auszuziehen.»
    Diese Frau war fest entschlossen, ihre Empfindungen weder zu spüren noch zu offenbaren. Diese Gefühle drängten förmlich danach, wahrgenommen zu werden, endlich «Gehör zu finden», was Brenda nur dazu brachte, sich immer neuen unangenehmen Situationen auszusetzen und ihre Emotionen zu «übertönen».
    Nach unserer dritten Sitzung rief ich ihren Anwalt an und bat ihn, Brenda noch einmal genau darzulegen, wie wichtig es für sie sei, die Behandlung bei mir fortzusetzen. Ich sah eine Chance für sie und wollte sie nicht verlieren. Zu Beginn unserer vierten Sitzung steuerte ich direkt auf das eigentliche Thema zu.
    «Erzählen Sie mir von Ihrem Verhältnis zum Essen», sagte ich und versuchte dabei, meine Stimme ganz ruhig zu halten. Sie riss verstört die Augen auf. Ihre fahle Haut verlor gänzlich die Farbe, und sie zuckte sichtbar zurück. Dann wurden die Augen wieder schmal, und sie setzte ihr entwaffnendes Lächeln auf.
    «Was meinen Sie damit – ‹mein Verhältnis zum Essen›? Das ist eine alberne Frage!»
    Ich erklärte ihr, was mich an ihrer äußeren Erscheinung alarmiert hatte, und sprach mit ihr über die Ursachen für Essstörungen. Brenda erfuhr, dass sehr viele Frauen unter einer solchen Krankheit leiden, und konnte so ihr eigenes Zwangsverhalten im richtigen Zusammenhang sehen. Erstaunlicherweise war Brenda viel früher bereit, über sich zu sprechen, als ich erwartet hatte.
    Brendas Geschichte war lang und kompliziert. Sie brauchte einige Zeit, um all das auszusortieren, was von dieser Wirklichkeit ablenkte, sie vertuschte oder verklärte. Sie konnte sich meisterhaft verstellen und heucheln. Dabei verstrickte sie sich ständig in ihrem eigenen Lügengewebe. Durch harte Arbeit hatte sie ein perfektes Image von sich geschaffen, mit dem sie der Außenwelt entgegentrat, ein Image, das ihre Angst, Einsamkeit und die schreckliche innere Leere verschleierte. Es fiel ihr sehr schwer, ihre Lebensbedingungen realistisch einzuschätzen und ihre wirklichen Bedürfnisse kennenzulernen. Diese Bedürfnisse waren so massiv, dass sie zwanghaft stahl, zwanghaft aß, erbrach und weiteraß und zwanghaft log, um jeden ihrer Schritte zu verbergen.
    Auch ihre Mutter war esssüchtig und extrem übergewichtig gewesen, solange Brenda sich erinnern konnte. Ihr Vater, ein dünner, eher drahtiger Mann voller Energie, hatte seiner Frau wegen ihres Aussehens und ihrer überspannten Religiosität schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt und es offenbar mit der ehelichen Treue nicht mehr so genau genommen. Niemand in der Familie bezweifelte, dass er sie betrog, aber keiner sprach je darüber. Davon zu wissen, war eine Sache, es zuzugeben, eine andere – nämlich die Verletzung der stillschweigenden familiären Übereinkunft: Was wir nicht offen zur Kenntnis nehmen, existiert für uns als Familie nicht und kann uns deshalb auch nicht wehtun. Es war eine Regel, die Brenda peinlich genau auf ihr eigenes Leben übertrug. Wenn sie einfach nicht zugab, dass etwas falsch oder schlecht war, dann war es auch nicht falsch oder schlecht. Probleme existierten nicht, solange sie sie nicht in Worte fasste. Kein Wunder also, dass sie genau an den Lügen und Märchen hartnäckig festhielt, die sie allmählich zerstörten. Kein Wunder, dass es ihr schwerfiel, sich in therapeutische Behandlung zu begeben.
    Brenda wuchs zu einem dünnen, drahtigen Mädchen heran; sie sah ihrem Vater sehr ähnlich. Sie war ungeheuer erleichtert darüber, dass sie viel essen konnte, ohne so dick wie ihre

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