Wenn Frauen zu sehr lieben
beide erhielten, war ihrer Lage angemessen. Ruth fand die geeignete Selbsthilfegruppe in
Daughters United
, einem Ableger von
Parents United
. Diese Organisation wurde gegründet, um gestörte Familien bei ihrem Selbstheilungsprozess zu unterstützen – auch Familien, in denen Kinder sexuell missbraucht werden. Glücklicherweise hatte sich dort, wo Ruth und Sam lebten, auch eine entsprechende Gruppe für Ehemänner von Inzestopfern gebildet. In diesem Klima von Verständnis und gegenseitiger Anerkennung und dem offenen Austausch von Erfahrungen gelang es den Teilnehmern, ihre Traumen zu überwinden und allmählich zu einem gesunden Ausdruck ihrer Sexualität zu finden.
Gesund zu werden bedeutete für die Frauen, die in diesem Kapitel zu Wort kamen, sich dem vergangenen und gegenwärtigen Schmerz zu stellen, den sie bisher zu meiden versucht hatten. Jede von ihnen entwickelte schon als Kind die Überlebensstrategie, unangenehme Erlebnisse oder Gefühle zu verleugnen und nach Kontrolle zu streben. Diese Strategie leistete den mittlerweile erwachsenen Frauen allerdings schlechte Dienste: Sie bereitete ihnen sogar noch zusätzlichen Schmerz.
Die Frau, die zu sehr liebt, benutzt den Abwehrmechanismus Verleugnung, den sie großzügig in «seine Fehler übersehen» oder «eine positive Haltung bewahren» umformuliert, auch als ein bequemes Ausweichmanöver – um sich nicht eingestehen zu müssen, dass «zu jedem Tanz zwei gehören», das heißt, dass die Unzulänglichkeiten ihres Partners es ihr erlauben, ihre vertrauten Rollen zu spielen. Solange sie ihr Kontrollverhalten als «hilfsbereit sein» und «Mut zusprechen» ausgibt, gesteht sie sich nicht ein, wie groß ihr Bedürfnis nach Überlegenheit und Macht eigentlich ist.
Verleugnung und Kontrolle – ganz gleich, in welcher Verpackung sie daherkommen – sind als Mittel zur Verbesserung unseres Lebens und unserer Beziehungen ungeeignet. Durch Verleugnung geraten wir allzu leicht in Beziehungen, die uns die – zwanghafte – Neuinszenierung der Kindheitstraumen erlauben, und unser Kontrollbedürfnis lässt uns an solchen Beziehungen festhalten, immer in dem Bemühen, andere statt uns selbst zu ändern.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf das Märchen zurückkommen, mit dem ich dieses Kapitel eingeleitet habe. Auf den ersten Blick scheint
‹Die Schöne und das Tier›
, wie erwähnt, zu den unzähligen Geschichten zu gehören, die den Glauben daran verbreiten, dass eine Frau die Macht hat, durch ihre hingebungsvolle Liebe einen Mann zu verwandeln. Auf dieser Interpretationsebene scheint das Märchen Verleugnung und Kontrolle als geeignete Wege zu befürworten, glücklich zu werden. Indem Labelle, die Schöne, das Schrecken erregende Untier bedingungslos liebt (Verleugnung), erlangt sie anscheinend die Macht, es zu verändern (Kontrolle). Diese Interpretation
scheint
zutreffend zu sein, weil sie sich mit den von unserer Kultur vorgeschriebenen Geschlechterrollen deckt. Aber meiner Meinung nach wird eine so vereinfachende Interpretation der Bedeutung dieses Märchens keinesfalls gerecht. Diese Geschichte hat nicht deshalb Bestand, weil sie die kulturellen Normen und Klischees irgendeines Zeitalters bestätigt, sondern weil sie ein wichtiges metaphysisches Gesetz in sich birgt – eine Lehre, die lebendig und zeitlos ist, die uns einen Weg aufzeigt, wie wir weise und zufrieden leben können. Dieses Märchen gleicht einer geheimnisvollen Schatzkarte; wenn wir klug genug sind, sie zu entziffern, und mutig genug, ihr zu folgen, dann wird sie uns zu dem großen Schatz führen: unserem persönlichen «Und lebte von nun an glücklich bis ans Ende ihrer Tage».
In
‹Die Schöne und das Tier›
geht es im Kern um die Fähigkeit zur
Akzeptanz
. Akzeptanz ist das Gegenstück zu Verleugnung und Kontrolle: die Bereitschaft nämlich, die Realität zu erkennen und zuzulassen – ohne das Bedürfnis, sie verändern zu müssen. Und darin liegt ein Glück, das nicht durch die Manipulation äußerer Bedingungen oder anderer Menschen entsteht, sondern durch die Entwicklung zu innerem Frieden, gegen alle Herausforderungen und Schwierigkeiten.
Labelle hat kein Verlangen danach, das Ungeheuer zu ändern. Sie beurteilt es realistisch, akzeptiert es so, wie es ist, und findet Gefallen an seinen positiven Eigenschaften. Sie versucht nicht, aus dem Ungeheuer einen Prinzen zu machen. Sie sagt nicht: «Wenn es kein Tier mehr ist, werde ich glücklich sein.» Sie bemitleidet es
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