Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
wollte ihn ins Krankenhaus bringen. Er sah nicht gut aus, weigerte sich aber zu gehen. Was soll man da machen?«
Wir kamen spät nach Hause. Unsere damalige Oberin war im vorderen Salon zusammen mit Jean, der Obersten der Laienmitarbeiter.
»Wo seid ihr beide gewesen?«, wollte sie von uns wissen.
»Ein Mann oben auf der Gore Street ist gestorben«, begann Schwester Annette.
»Und was habt ihr damit zu tun?«, unterbrach sie sie.
»Wir waren auf dem Heimweg, als sein Freund kam und uns holte«, erklärte ich.
»Als wärt ihr die Einzigen, um ihn zu begleiten. Ihr seid nur Novizinnen. Warum habt ihr nicht die Professen gebeten, dorthin zu gehen?«
»Weil …«, setzte ich an.
Die Schwester fiel mir ins Wort. »Ihr hättet rechtzeitig nach Hause kommen sollen. Eure Pflicht ist es, das zu tun, was man euch anschafft. Nicht mehr, nicht weniger. Ihr scheint die Absicht zu haben, zu tun, was euch beliebt und wann es euch beliebt - immer müsst ihr euch unentbehrlich machen, und alles nehmt ihr so wichtig.« Mein Gesicht brannte, es war mir peinlich, vor Jean abgekanzelt zu werden.
»Ja, Schwester. Danke Schwester«, erwiderten wir.
Als ich versuchte, mich ins Gebet zu versenken, sah ich Archies eingefallenes Gesicht und seine starren Augen. Ich war im Geiste ganz woanders, als ich Worte murmelte, die für mich keine Bedeutung hatten.
»Gegrüßt seist du, Herrin der Erde,
Gegrüßt seist du, himmlische Königin,
Gegrüßt seist du, jungfräulichste Jungfrau, keusch und heiter.«
Meine Gedanken rasten. Eine kurze Zeit lang sieht ein toter Körper einem lebendigen sehr ähnlich, aber die unsichtbare Essenz des Lebens fehlt. Ich fragte mich, warum er sich so stark abhängig vom Methanol machte? Man hat uns beigebracht, dass wir Menschen in Not helfen und ihnen unser Mitgefühl zeigen sollten. Wir waren von der Professe gebeten
worden, dorthin zu gehen. Ich konnte nicht begreifen, dass ich irgendetwas falsch gemacht hatte.
Ich machte Fehler beim Rezitieren des Gebets, das von Vers zu Vers von der einen Seite der Kapelle zur anderen wanderte. Ungeachtet meines inneren Aufruhrs verhielt ich mich beim Abendessen so, als wäre nichts passiert, wie das von mir erwartet wurde. Doch später, als ich über den Vorfall nachdachte, übertrug ich mir Auszüge aus den Satzungen der Missionarinnen der Nächstenliebe in mein Notizbuch: »Jede Schwester solle Jesus Christus in der Person des Armen erkennen.« Es war ein Paradox: Da lehrte man uns, den Bedürftigen mit Mitgefühl zu begegnen, wir aber wurden, wenn wir es taten, zurechtgewiesen, weil eine solche Handlung mit der Einhaltung des Zeitplans kollidierte. Rigider Gehorsam erlaubte kein eigenes Ermessen im Umgang mit Menschen.
Indem ich einem religiösen Ideal nachstrebte, hatte ich mir das ganze Bündel aufgebürdet und mich dafür entschieden, meine Freiheit aufzugeben, die grundlegendsten Dinge selbst zu entscheiden: was ich tat, wohin ich ging, was ich aß, wann ich schlafen ging und wach wurde und was ich las. Ich wurde Gottes perfektes selbstloses Instrument, bereit, jede Arbeit zu tun, egal wo und unter wem. Das Lächeln und Lachen, das den Missionarinnen der Nächstenliebe immer so leicht über die Lippen zu kommen schien, verbarg viel Kummer und innere Kämpfe.
Armut war ein anderer, von der Gemeinschaft hoch geschätzter Wert. Gemäß den Evangelien ist die Weltordnung auf den Kopf gestellt. Mutter argumentierte, dass Christus,
obwohl er Gott sei, sich selbst erniedrigt habe, um ein armer Mann sowie ein Freund der Schwachen und Verachteten zu werden, also sollten wir dasselbe tun und Anteil nehmen an der »Armut des Kreuzes«, wie sie es nannte.
Also sollten auch wir ein einfaches Leben führen, frei vom Ballast materiellen Besitzes. Wir stopften unsere Kleider, flickten unsere Gummilatschen, und nichts wurde vergeudet. Wir reinigten unser Geschirr und selbst unsere Zähne mit Asche. Wir gingen zu Fuß, wann immer es möglich war. Es gab weder Fernsehen noch Radio. Eine Schwester durfte keine persönlichen Geschenke bekommen, alles, was sie bekam, gab sie an die Oberin weiter, die dann beurteilte, ob es für den Allgemeingebrauch passend war.
Völlige Abhängigkeit von der Oberin wurde ebenfalls als Teil des Armutsgelübdes angesehen. Die Geschichten, die mein Onkel Toby uns aus seiner Zeit als Franziskanernovize erzählt hatte, waren nicht übertrieben - dass man nämlich fast betteln musste, um eine neue Zahnbürste zu bekommen, und er ahmte
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