Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
Nächstes würde kommen: »Du bist stolz, selbstgerecht, eingebildet …« Ich fragte mich, warum es so schwer sein musste. War ich wirklich eingebildet und selbstgerecht? Ich wusste es nicht mehr.
»Schwester, die Familie ist gekommen, weil sie Hilfe sucht. Es ist nicht richtig, ihn wegzuschicken.«
»Dann weißt also nur du, was richtig ist? Du bist zu stolz, um zu gehorchen. Was bringst du den Novizinnen bei? Wenn du in das Tahanan zurückgehst, werde ich mich heute um dieses Kind kümmern, ansonsten sollte an Donnerstagen aber keiner kommen.«
Ich kehrte zu meiner Leiche zurück und wahrte die Fassade der Normalität, ohne mich mit jemandem über den Sturm in mir auszutauschen. Ich rief den Leichenwagen an und begann gemeinsam mit den Novizinnen, die Kleider und Leintücher der Patienten zu waschen. Viele der Patienten waren inkontinent, aber Mutter erachtete eine Waschmaschine als nicht vereinbar mit dem Gelübde der Armut. Wie gewöhnlich beteten wir laut den Rosenkranz, während wir wuschen und mit Bürsten den festen Schmutz entfernten. Ich rezitierte die Worte des Gebets, war aber in Gedanken anderswo. Manchmal ist ein armer Mensch heilig,
dachte ich, Christ im Gewand des Notleidenden. Zu anderen Zeiten wiederum ist er nur ein machtloser Mensch, mit dem wir umspringen können, wie wir wollen.
Eine der Novizinnen, eine Krankenschwester, begann mit Alex’ Behandlung. Als ich ihn im späteren Verlauf des Tages besuchte, reagierte er auf die Infusionen und die Antibiotika.
Der Konflikt zwischen dem Ideal und der Realität, zwischen meiner Einschätzung der Situation und der meiner Vorgesetzten, steckte wie ein Dorn in meinem Leben.
Ich schrieb direkt an Mutter. Ich hatte ihr geschrieben, als ich in Indien war, und sie wegen des Konflikts zwischen Mitgefühl und Gehorsam gefragt, aber keine Antwort bekommen. Diesmal erzählte ich die Geschichte von dem kranken Kind und fuhr dann fort:
»Häufig möchte an einem Donnerstag ein sehr krankes Kind aufgenommen werden. Ich werde getadelt, wenn ich zu helfen versuche. In mindestens drei Fällen überlebten die Kinder, auch wenn man das nicht für möglich gehalten hätte. Einmal sagte eine sehr erfahrene Schwester zu mir: ›Du hast kein Vertrauen. Warum gibst du dir so viel Mühe, ihr Leben zu retten? Es sind Slumkinder. Wenn sie erwachsen sind, tun sie womöglich Böses in ihrem Leben. Solange sie getauft sind, ist es besser, sie sterben.‹ Jesus rettete Leben und hatte Mitgefühl. Er hat nicht gesagt: ›Das Beste ist es, sie sterben und kommen in den Himmel.‹
So oft wie es vorkommt, Mutter, stehe ich in einem Konflikt zwischen Nächstenliebe und Gehorsam. Dieser reißt mich wirklich entzwei. Man hat uns so oft beigebracht,
und wir bringen es auch den Novizinnen bei: ›Es ist Christus im Gewand der Armen‹, und dann sagt man uns, wir sollen Ihn wegschicken.«
Schwester Gabrielle beantwortete meinen Brief an Mutter. Ich hatte geäußert, dass wir meiner Meinung nach Ausnahmen von den Regeln machen mussten und dass selbst Jesus dies getan hat, indem er die Kranken auch am Sabbat heilte. Sie antwortete mir mit den Worten, dass auch der Teufel die Heilige Schrift zitiere und ich mir deshalb meiner Sache nicht allzu sicher sein sollte. Dann stellte sie die Frage: »Wie mitfühlend ist Gott?« Im Grunde fragte sie mich: Glaubte ich, dass Gott nur dann mitfühlend war, wenn er etwas für diejenigen tat, die körperlich litten? Sie nahm Bezug auf Maria am Fuße des Kreuzes, die den Tod ihres Sohnes Jesus als den Willen Gottes akzeptierte. Daraus zog sie die Schlussfolgerung, dass ich beim nächsten Mal, wenn ich ein sterbendes Kind oder eine leidende Mutter sah und mir meine Hände durch die Gehorsamspflicht gebunden waren, nicht aufhören sollte, mein »Ja« zu sprechen - in anderen Worten, zu gehorchen und »Ja« zu meiner Vorgesetzten und »Nein« zu dem bedürftigen Menschen zu sagen.
Es verletzte mich zutiefst, dass ein privater Brief an Mutter von jemand anderem gelesen und beantwortet worden war. Außerdem fand ich Gabrielles Antwort völlig unverständlich. Ich wusste nicht mehr aus noch ein. Die anomale Logik des Glaubens, gekoppelt mit der Verantwortung, Autorität zu zeigen und Regeln durchzusetzen, vermag Menschen zu seltsamen Schlussfolgerungen zu bewegen.
Die Antwort stimmte nicht mit dem überein, was Gabrielle getan hätte, wenn sie hier bei uns in Manila gewesen wäre und sich in dieser Situation befunden hätte. Ich kannte
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