Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
sie als eine mitfühlende Frau. Einige der Oberen bei den Missionarinnen der Nächstenliebe wurden in Machtpositionen gedrängt, wo sie die Verantwortung für Hunderte von Menschen und viele Ressourcen übernehmen mussten, ohne dafür ausgebildet oder vorbereitet zu sein. Weil Mutter glaubte, Gott benutze die Schwachen, um die Starken und Intelligenten zu verblüffen, handelte die Gesellschaft beinahe so, als würde es für mangelndes Vertrauen sprechen, wenn man jemanden auf eine leitende Funktion vorbereitete. Den gleichen Mangel an Logik offenbarte die Gesellschaft, indem sie von Gott erwartete, die Unwissenheit und die mangelhafte Ausbildung in der medizinischen Arbeit wettzumachen.
Dieser Vorfall war ein zentrales Ereignis für mich. Ich konnte nicht »fiat« zum unnötigen Tod eines Kindes sagen. Wenn alles, was möglich war, getan wurde und das Kind dennoch starb, ja, dann konnte ich Gottes Willen geschehen lassen. Aber ich glaubte nicht, dass der Gehorsam es einem so sehr erschweren musste, auf »Christus im Gewand des Notleidenden« einzugehen. Von diesem Punkt an war mein Verbleiben im Orden ein Kampf. Mir wurde bewusst, dass die Widersprüche nicht aufgelöst werden konnten und der Orden nicht wünschte, dass ich sie zugab. In meinem Notizbuch beschrieb ich meine Position ziemlich melodramatisch: »Du musst die Wahrheit sagen. Du musst am Rand der Klippe gehen. Du musst beten und büßen, sonst stürzt du ab.« Und »ich habe versucht,
Dir zu folgen, aber mir scheint, ich bin Dir ferner denn je am Rand eines Abgrunds, in den ich leicht hineinfallen könnte. Ich empfinde heftige Wut auf die Gemeinschaft. Ich möchte sie verlassen und mein eigenes Leben führen, aber vielleicht zerreiße ich, indem ich dies tue, den goldenen Faden deiner Vorsehung.«
Ich war nicht die Einzige, die Schwierigkeiten hatte. Eine der Professen machte den dramatischen Schritt und rannte eines Nachts davon. Uns war gar nicht klar, was passiert war, und wir suchten stundenlang nach ihr, weil wir Angst um sie hatten. Auch mehrere andere Schwestern verließen den Orden. Wir verabschiedeten uns nicht von ihnen, und man sprach nicht mehr von ihnen. Ich dachte oft an sie und fragte mich, ob sie wohl in der Lage waren, sich wieder in ihrer eigenen Kultur zurechtzufinden, Liebe zu finden, eine Familie zu haben oder ob sie ein Leben als Vertriebene führten?
In einem anderen Fall verbannte die Schwester, die die Befehlsgewalt über das Tahanan hatte, drei der männlichen Tuberkulosepatienten aus der Station, weil deren Verwandte ihnen nachts Essen gebracht hatten. Sie wussten nicht, wohin sie gehen sollten, hatten kein Transportmittel, also blieben sie vor dem Tahanan stehen - abgemagert, krank und blass in der Hitze, ohne Essen und Trinken. Ich ging zu der Schwester, um mich zu erkundigen, was passiert war, erhielt aber zur Antwort, dies gehe mich nichts an. Am späten Nachmittag hielt ich es nicht länger aus und gab ihnen aus der Küche etwas zu essen und zu trinken.
Dann begann die Kritik erneut.
Ob ich glaubte, die einzige Person zu sein, die wisse, was
Mitgefühl sei? Ob ich mich in Angelegenheit einmischen müsse, die mich nichts angingen?
Wenn ich einen anderen Menschen leiden sehe, dann wird dies sofort und auf der Stelle zu meiner Angelegenheit. Man kann sich nicht einfach umdrehen und so tun, als sehe man es nicht.
Etwa einen Monat nach diesen Vorfällen zeichnete sich ab, dass ich meine Position als Lehrerin der Novizinnen im ersten Jahr verlieren würde. Ohne mit mir darüber zu diskutieren, wurde mein Bettzeug aus dem Schlafsaal der Novizinnen entfernt und ins Haus der Professen gebracht. Im späteren Verlauf des Tages teilte meine Oberin mir mit, eine andere Schwester werde bald aus Indien eintreffen, um mich als Lehrerin zu ersetzen. Dies geschah nur wenige Wochen vor der Klausur der Professen, dem Zeitpunkt, zu dem die Novizinnen ihr erstes Jahr beenden würden, aber es wurde mir nicht erlaubt, bis zur normalen Übergabe weiterzumachen. Einige Tage darauf erhielt ich einen Brief aus Kalkutta mit der »guten Nachricht«, dass ich nicht mehr länger für die Novizinnen verantwortlich war.
»Sofern Gottes Wille dir die Kraft gibt, kannst du dich am Unterrichten beteiligen. Auf jeden Fall ruht die Last der Verantwortung nicht mehr länger auf deinen zarten Schultern. Zumindest nicht im Moment.«
Ich war achtundzwanzig. Meine Schultern waren nicht zart. Durch dieses Verbot, weiterhin zu unterrichten, fühlte ich
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