Wenn Licht die Nacht durchdringt: (Teil 2) (German Edition)
angestaute Wut loszuwerden.
Als sie auf das Wohnzimmer zusteuerte, hielt Nikolaj sie zurück. „Lass uns nach oben gehen.“
Ihr lag ein „Warum“ oder „Nein“ auf den Lippen, doch nickte sie schließlich knapp und steuerte auf die Treppe zu. Als sie die Stufen voranstieg, konnte sie seinen Blick auf ihrem Rücken spüren, was sie dazu brachte, schneller gehen zu wollen. Sie nahm sich jedoch so gut wie möglich zusammen, ignorierte die aufsteigende Hitze und legte die Strecke in normalem Tempo zurück. Im Obergeschoss angekommen blieb sie zögernd stehen. Sie wollte nicht ins Schlafzimmer. Nicht in einen Raum mit Bett.
Nikolaj drängte sich an ihr vorbei, öffnete alle Türen und lugte hinein. „Hier“, sagte er schließlich und nickte mit dem Kopf in Richtung einer der Räume.
Sie nahm einen tiefen Atemzug, folgte seiner Aufforderung und trat in die Mitte des Raums. Ein Arbeitszimmer. Schreibtisch. Regale mit dicken Büchern, die nach Fachlektüre aussahen. Plakate mit Schaubildern, Diagrammen und Formeln an den Wänden. Schränke. Ein Hauch von Erleichterung überkam sie angesichts dieser unverfänglichen Atmosphäre.
Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss und ließ sie herumschnellen. Nikolaj fing ihren erschrockenen Blick auf.
Nun waren sie allein. Allein in einem Raum mit einer Fläche von etwa 20 Quadratmetern – höchstens. Wie er so vor der Tür stand, flammte die Erinnerung an die Szene in seiner Wohnung auf, als er ihr den Ausgang versperrt und sie zum Bleiben gezwungen hatte. Bevor er …
Nikolaj trat hastig ein paar Schritte vor, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. Er lief an ihrer Seite vorbei auf den Schreibtisch zu, lehnte sich rücklings dagegen und verschränkte die Arme vor der Brust.
Eine Weile standen sie wortlos da. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte – und Nikolaj sah den Boden zu ihren Füßen an. Sie beschied sich damit einen Punkt an der Wand zu fixieren.
Es lag so vieles in der Luft – zwischen ihnen. So viel, dass es kaum möglich war, sich auf etwas Bestimmtes zu fokussieren oder ein einzelnes Bruchstück herauszupicken und anzusprechen. Vor allem deshalb nicht, weil sie allesamt schmerzhaft waren, wie der Stachel einer Biene.
„War das Céstine?“, fragte er schließlich, sodass sie ihn ansah. Er deutete auf ihr Gesicht. „Das große Pflaster auf deiner Wange.“
Unwillkürlich hob sie die Hand. „Ja … ein Messer … ein langer Schnitt …“
„Was wollte sie von dir?“
„Was sie von mir wollte?“ In ihrer Stimme schwang hörbar Erregung mit. „Sie wollte mich umbringen.“ Natürlich hätte sie auch „Sie wollte mich in winzig kleine Stücke zerlegen, bis nur noch ein matschiger und unansehnlicher Klumpen Fleisch von mir übrig ist“ sagen können, wie Céstine sich ausgedrückt hatte, doch sie tat es nicht.
„Ich hätte sie ernster nehmen müssen. Immerhin kannte ich sie lange genug, um zu wissen, wie sie tickt – und zu was sie fähig ist.“
Darüber wollte er nun reden? Über Céstine? Darüber, dass er Céstine nicht aufgehalten hatte, ihr das anzutun?
Darüber
? Nicht über das, was
er
getan hatte? Mit ihr? Ihrem Vater? Darüber, dass er sie in die Sensatenwelt zu Merkas und Céstine gebracht hatte? Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich weiß nicht, wie lange du sie schon kennst – oder kanntest“, sagte sie laut. „Ich weiß nicht, wo und wie ihr euch kennengelernt oder wie ihr zueinandergestanden habt. Du hast nie ein Wort darüber verloren.“ Wut stieg in ihr auf – ebenso wie Kummer und Schmerz. „Du hast gesagt, du würdest auf mich aufpassen und dann …“
„… dann hast du mich ein Monster genannt“, beendete er den Satz – nüchtern und tonlos. Er holte Luft. „Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wichtig ist jetzt einzig die Frage, wie du dein normales Leben zurückbekommst.“
„Mein normales …“, echote sie mechanisch.
Das spielt jetzt keine Rolle?
Sie konnte kaum glauben, was ihre Ohren gehört hatten. Nichts von dem, was passiert war, sollte eine Rolle spielen? Sie starrte ihn fassungslos an. „Alles was … was passiert ist … Du …“ Vor lauter Erregung konnte sie nicht richtig sprechen.
„Ich bin jetzt hier.“
„Vielleicht will ich dich gar nicht hier haben“, platzte sie heraus. „Du hast … du hast so vieles getan – und jetzt … tust du so, als wäre nichts gewesen. Es ist etwas gewesen – sehr viel! Du … warst weg. Du warst nicht mehr du – oder vielleicht warst du zum ersten Mal du
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