Wenn nicht jetzt, wann dann?
sprechenden Stimme, die offensichtlich per Band zu mir spricht. Da erst merke ich, dass ich wohl in einem Kloster oder sonstigen Gebäude — mir fällt dazu auch die Scientology-Sekte ein — gelandet bin. Jedenfalls hat das mit den römischen Sklavenunterkünften, die ich suchte, absolut nichts zu tun. Auch ist außer der spanischen Stimme nichts Menschliches zu sehen.
Ich trete in eine hohe Halle ein, in der jeder meiner Schritte auf dem Steinboden hallt, und folge der spanisch sprechenden Stimme so weit, bis ich vor einer alten Holztreppe stehe. Soll ich diese nun hinaufgehen? Noch immer ist kein Mensch zu sehen, sodass ich weiterhin im Halbdunkel dieser riesigen Halle verharre. Beim Betreten der Treppe knarrt jede der Stufen, die Atmosphäre ist einfach unheimlich. Die Treppe ist lang gezogen und hat mindestens 35 Stufen, die ich vor mich hin knarrend ersteige. Oben angekommen, befindet sich dort eine weitere Eisentür. Diese jedoch lässt sich nicht öffnen, sodass ich es jetzt mit der Angst bekomme und auf dem Absatz kehrt mache, die Treppe herunter renne und dann — sehr Panik unterlegt — das Gebäude verlasse. Noch immer ist die spanische Stimme zu hören, die mir weiterhin etwas Unverständliches erzählt.
Nun stehe ich wieder in der grellen Sonne des Vorplatzes vor der hohen Mauer. Es geht mir jetzt richtig schlecht, und ich habe große Bedenken, mich sehr leichtsinnig in eine gefährliche Situation hineinmanövriert zu haben, zumal mein Selbstverteidigungs-Pfefferspray sich wohlbehalten in der Jackentasche in der Herberge befindet. Doch plötzlich, wie durch ein Wunder, öffnet sich, leicht knarrend, die große schwarze Eisentür wieder, und ich verlasse fluchtartig diesen merkwürdigen Platz. Ich fühle mich, sicher zu Recht, beobachtet und bin sehr froh, als ich wieder auf der Straße stehe. Mein Herz klopft nun doch erheblich, und ich verspreche mir selbst, künftig vorsichtiger zu sein, denn alle Abenteuer- und Entdeckerfreude sind sicher solch ein Risiko nicht wert! Dieser Ort war mir unheimlich, und er passte so gar nicht zum Klima dieses sonst so lieblichen und verträumten Örtchens Astorga.
Mein Weg führt mich nun wieder einmal zur Polizeistation, denn ich möchte mir dort einen Stempel für meinen Pilgerpass holen. Der Polizist fühlt sich jedoch nicht zuständig und will mir diesen Stempel erst geben, als ich ihm den Polizeistempel aus Logroño zeige. Zum Stempel trägt er nun auch noch das falsche, gestrige Datum ein. Nun bin ich völlig verwirrt, zumal ich heute schon den ganzen Tag gegrübelt habe, welcher Wochentag sei. Im Laufe meiner Reise entgleist die Ordnung in meinem Leben, ich bin zeit- und raumlos und merke, wie nichts mehr wichtig ist, was mein Leben vordem geprägt hatte. Die Leichtigkeit des Seins hat von mir Besitz ergriffen, und ich »schwebe« durch Zeit und Raum.
Am Nachmittag laufe ich wieder durch die Altstadt mit der Kathedrale, die mit ihren beiden riesigen Türmen über die Stadt hinausragt und mich magisch anzieht. Neben dieser steht noch ein gut dazu passendes Gebäude, welches jedoch neueren Datums ist. Es ist das Pilgermuseum, das durchaus sehenswert ist. Mir kommt der Vergleich mit Schloss Canterbury in den Sinn, denn so wirkt dieses Bauwerk; man könnte meinen, dass hier sogleich Vampire um die Türme der Gemäuer fliegen werden.
Bei meinen Exkursionen durch die Altstadt entdecke ich — in den Schaufenstern dekoriert — Kakaobohnen, eine hell- und eine dunkelbraun. Astorga ist offensichtlich die Stadt der Schokolade, die überall in verschiedenen Sorten und Größen verkauft wird. Es gibt viele Geschäfte, die Pralinen und Schokoladen führen, und ein verführerischer Duft dringt von diesen bis auf die Straße. Ich würde gerne für zu Hause etwas mitnehmen, jedoch lasse ich es schweren Herzens lieber. Die Schokolade wäre im Rucksack zu schwer, und sie könnte durch die Wärme Schaden nehmen.
Den restlichen Nachmittag verbringe ich auf dem Marktplatz, im Straßencafé sitzend, mit neu angekommenen Pilgern redend, bis es leider wieder einmal anfängt zu regnen. Was ist bloß mit dem spanischen Wetter los? Ich habe Sonne »gebucht« und nun so etwas! Wenn ich so sehe, wie die neuen Pilger, in ihr Regencape gehüllt, tropfend und triefend hier ankommen, mag ich gar nicht an den morgigen Tag denken, wenn es auch für mich weitergehen soll. So langsam bezieht sich der Himmel völlig, es wird kälter, und offensichtlich meint es Petrus als Wettergott nicht
Weitere Kostenlose Bücher