Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
niemand und eine Straßenbahn war auch nicht in Sicht. Noch während ich auf mein Erbrochenes herabschaute, sehnte ich mich nach Maria. Die Trennung von ihr hatte mein Leben weder klarer noch einfacher gemacht. Im Gegenteil, ich stolperte in selbstfabrizierten Dummheiten herum, derer ich mich auch noch schämte. Im Büro gab es zwischen der Buchhaltung und dem Technischen Büro einen schmalen, fensterlosen Korridor, der als Garderobe für die Angestellten genutzt wurde. Rechts zog sich von Wand zu Wand eine Stange entlang, an der Regencapes, Sommerjacken und vergessene Mäntel hingen. In diesem Korridor begegnete ich häufig Frau Meinecke. Sie war knapp über vierzig und eine gute Statikerin. Sie war leichtlebig und dachte nach zwei gescheiterten Ehen in sexuellen Dingen nicht mehr sehr zurückhaltend. Lange kam ich problemlos an Frau Meinecke vorbei, weil ich mir immer dachte: Diesen Kelch nicht auch noch. Aber seit ich mir als halbtoter Gebrauchtmann vorkam, der an einem Gebrauchtschreibtisch saß und von dort vielleicht nicht mehr wegkam, verlor ich eines Nachmittags die Fassung und drückte Frau Meinecke seitlich in die Jacken und Mäntel der Kollegen und küsste sie heftig und fasste ihr an die Brust und an den Popo. Das alles musste schnell gehen, weil in jedem Augenblick eine der beiden Türen des Korridors sich öffnen und ein Kollege erscheinen konnte.
    Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, dass in dieser Schnelligkeit die Botschaft enthalten wäre, dass es zwischen Frau Meinecke und mir zu nichts anderem reichen würde als zu dieser hastigen Garderobensexualität. Es war in meinem Bewusstsein offenbar eine Fremdheit eingebaut, die sichüber plausible Erwartbarkeiten hinwegsetzte. Denn tatsächlich war Frau Meinecke über meinen Überfall erfreut und hoffte auf zivilere Fortsetzungen. Es war klar (und ich hätte das wissen können), dass Frau Meinecke annahm, wir würden die unterbliebene normale Annäherung gemeinsam nachholen. Blitzartig erkannte ich leider zu spät meine Dummheit. Unter dem Druck der Situation löste sich in meinem Inneren ein Schub mit frischer Stummheit. Ich wusste nicht mehr, was ich tun und wo ich hingehen sollte. Frau Meinecke sah mit hellem Blick zu mir herüber und wartete auf meine Initiative. Von solchen verwirrten Bürozutraulichkeiten gab es keinen geordneten Rückzug. Es würde sehr lange dauern, bis Frau Meinecke verstehen würde, dass meine Annäherung höchstens die Qualität eines schnell abgebrannten Tischfeuerwerks hatte. Ich hätte vor Frau Meinecke hintreten und sagen sollen: Verzeihen Sie bitte den Ausbruch meiner Unerlöstheit in Ihre Arme. Solche schönen Szenen konnte ich mir immer nur ausdenken. Ärgerlich war, dass mich die bloße Ausgedachtheit schon zufrieden machte. Ich sah zu Frau Meinecke hinüber und gab ihr nicht den kleinsten Hinweis, was meine Blicke zu bedeuten hatten. Ich kehrte um und ging zur Paketausgabe der Post zurück. Langsam wurde es 18.00 Uhr, das heißt, die Paketausgabe würde bald schließen. Die bevorstehende Schließung reichte aus, in mir einen neuen Druck zu erzeugen. Ich blieb auf der Straße stehen und sagte tatsächlich zu mir: Der baldige Feierabend der Paketausgabe spielt für den Fortgang deines Lebens keine Rolle. Dennoch blieb ich stehen und kämpfte gegen in mir hochsteigende … ich weiß nicht, wie ich den Unrat nennen soll, der sich in meinem Hals ausbreitete. Es befiel mich eine plötzliche Unsicherheit. Ich prüfte nach, ob alles noch da war:Geldbeutel, Kreditkarte, Schlüssel, Brieftasche. Alles war an seinem Platz. Über einen Mann, der mich anrempelte, dachte ich nur: Jaja, du bist auch einer von den modernen Grobianen. Ein Bratwurstverkäufer packte seine Sachen ein und schloss seine Bratwurstbude. Etwa ein halbes Dutzend nicht verkaufte Bratwürste ließ er auf dem langsam erkaltenden Rost zurück. Von den Frauen, die mir entgegenkamen, betrachtete ich eine Weile nur die Lippen. Schon nach kurzer Zeit verstand ich nicht mehr, was eigentlich so toll daran sein sollte, mit den eigenen Lippen den Kontakt zu Frauenlippen zu finden. Mein Gott, Lippen! Eine der Frauen streckte mir die Zunge heraus. Ich fragte mich, ob ich verwirrt war, ich war es nicht.
    Ich brauchte etwa drei Minuten, bis ich die Paketausgabe erreicht hatte. Der Raum war leer. Hinter dem Tresen war eine Tür geöffnet. Aus dem Raum hinter der Tür drang das Geräusch von unterdrücktem Lachen und leise Schlagermusik. Ich ging nach vorne zum Tresen und

Weitere Kostenlose Bücher