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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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neben unserem Tisch und hörte jedes Wort. Maria weinte. Ich hatte das Gefühl, sie sitzt im Gefängnis, nicht ich. Sie war erschüttert, dass so etwas passieren konnte. Ich erzählte ihr die Vorgeschichte, die ich ihr bis dahin verschwiegen hatte.
    Warum machst du so etwas? fragte sie.
    Ich weiß es nicht wirklich, sagte ich.
    Du bist ein Armleuchter, sagte sie.
    So ging es eine Weile hin und her. Ihre sanften Beschimpfungen taten mir gut. Wieder erwähnten wir mit keinem Wort, dass wir eigentlich getrennt waren.
    In drei Minuten ist Ihre Besuchszeit um, sagte der Schließer in unser Gespräch hinein.
    Danach waren wir so deprimiert, dass wir nichts mehr sagten. Nach etwa zwei Minuten sagte sie: Ich komme wieder, sobald ich kann. Sie hielt sich ein Taschentuch vor das Gesicht und verließ den Besuchsraum.
    Langsam begriff ich: Es war ein Privileg, dass ich eine Einzelzelle hatte. Den Grund dafür kannte ich nicht. Vielleicht gab es keinen Grund, und es war alles nur Zufall. In fast allen Zellen waren mehrere Männer untergebracht. Nach etwa einer Woche hatte ich den Eindruck, den Hauptstoß der Gefängnisdepression hinter mir zu haben. Ichtraute mich kaum zu denken, dass mir das Leben im Gefängnis in gewisser Weise gefiel. Ich war hier befreit davon, die Leute um mich herum beeindrucken zu müssen. Für jemand wie mich, der mit innerer Geltungssucht geschlagen war, war die Zelle eine Erleichterung. Das Tagesgefühl des ewigen Wartenmüssens war im Gefängnis nicht viel stärker als draußen. In beiden Fällen war es ein Warten auf das Verschwinden der Fremdheit. Ganz wichtig war außerdem, dass der ewige Zirkus vor den Frauen wie weggepustet war. Ich weiß nicht, warum mir mein toter Vater so oft einfiel. Vielleicht hing es damit zusammen, dass ich so oft am Tag die Toilettenschüssel anschauen musste. Vater betrachtete, wenn er auf der Toilette gewesen war, lange sein Wasser, ehe er es wegspülte. Weil die Toilettentür bei uns zu Hause gewöhnlich offenstand, konnten wir Kinder immer wieder sehen, wie Vater seiner verschwindenden Notdurft nachschaute. Einmal in der Woche durften die Gefangenen eine Stunde lang fernsehen. Obwohl ich nicht fernsehen wollte, ging ich in den Aufenthaltsraum und schaute mir irgend etwas an. Gewöhnlich lief eine Schlagerparade. Schlagersänger, die ich schon in meiner Jugend kannte, waren nicht (wie ich im stillen erwartete) längst tot, sondern sie waren alt geworden und trällerten immer noch. Auch die seitlich wartenden Schließer verfolgten das Programm. Ich war immer der Meinung gewesen, dass ein Mensch, der Schlagersänger werden wollte, unbedingt jung sein und bleiben musste, weil ich glaubte, dass Jugend und Unfug ursächlich zusammenhingen. Aber jetzt sah und hörte ich, dass auch alt gewordene Schlagersänger viel Unfug heruntersangen. Offenbar durften sie die Melancholie darüber, dass sie älter geworden waren, nicht ausdrücken. In der Schlagerparade herrschte striktes Reifungsverbot.
    Meine Gedanken gefielen mir, jedenfalls eine Weile. Nach ungefähr fünfzehn Minuten empfand ich plötzlich Scham über die alt gewordenen Sänger. Gleichzeitig gefiel mir meine Scham, was für mich etwas Neues war. Gewöhnlich rief Scham mein Missfallen hervor. Aber jetzt betrachtete ich sie mit Wohlgefallen und war froh, dass es sie gab. Ich kann sagen, die Scham ist das zarteste innere Gebilde, das ich in mir aufbewahrte. Mir fiel ein, dass ich genauso, wie ich jetzt alte Schlagersänger betrachtete, eines Tages beim Sterben ebenfalls Scham empfinden werde über die Leute, die um mein Bett herumsitzen und mich betrachten werden. Auch sie würden Scham empfinden über mich, weil sie nicht damit gerechnet hatten, dass sie mich so lange würden anschauen können. Ich erschrak, weil sich meine Gedanken so weit in die Zukunft vorgewagt hatten. Plötzlich hatte ich Kontakt mit meinem Tod. Er roch nach Gefängnis und ältlichem Sperma. Kurz danach bat ich einen Schließer, in meine Zelle zurückkehren zu dürfen. Er fragte nicht nach dem Grund, er führte mich wortlos zurück in meine Zelle.

9
    GEGEN FÜNF UHR , als es draußen hell wurde, wachte ich auf. Um sechs öffnete ein Schließer die Tür, ein anderer schob das Frühstück in die Zelle. Es war ein Becher mit dünnem Kaffee und zwei Scheiben Schwarzbrot mit Aufstrich. Obwohl ich viel Zeit hatte, frühstückte ich mit dem Gefühl innerer Eile. Schon nach zehn Minuten saß ich da und schaute auf den leeren Teller und den leeren Becher. Es

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