Wenn Wir Tiere Waeren
dauerte noch ungefähr zweieinhalb Stunden bis zum täglichen Rundgang im Innenhof. Dieser Tage hatte ich versucht, mit dem einen oder anderen Gefangenen während des Rundgangs zu reden, ohne Erfolg. Die meisten Gefangenen artikulierten so schlecht, dass ihre Art zu sprechen auf eine Sprachbehinderung hinauslief. Oft musste ich raten, was sie sagen wollten. Ich hatte mir abgewöhnt zu denken, dass ich mit den anderen Gefangenen etwas zu tun hätte. Nur ein Zufall hatte uns in diesem Gefängnis zusammengeführt, das war alles. Ich traute mich endlich zu denken, dass ich die anderen nicht verstand. Das hatte ich schon im normalen Leben oft empfunden, aber ich hatte mich nicht getraut, es auch zu denken. Ein Vorteil des Alleinlebens im Gefängnis war: man wurde nicht gefragt, wo man tagsüber gewesen war. Nach dem Abendbrot durfte ich mich hinlegen, mir ein Buch auf die Brust stellen und lesen. Niemand kam und machte mir irgendwelche Vorwürfe oder verlangte etwas von mir. Nach dem Abendbrotblieb das Licht bis etwa neun Uhr eingeschaltet. Dann wurde es plötzlich dunkel. Danach dauerte es etwa drei Stunden, bis ich einschlafen konnte. Bis dahin lag ich herum, setzte mich auf den Pritschenrand, stand auf, durchquerte die Zelle und legte mich wieder hin. Obwohl ich davon ausging, dass diese Unrast ein Teil meiner Strafe war, verstand ich die Unrast nicht. Vermutlich war auch das Nichtverstehen ein Teil der Strafe. Bei Vollmond drang ein wenig weißliches Licht in meine Zelle, so dass ich meine Hände und meine Knie wiedererkennen konnte. Ein bösartiger Bestandteil dieser Abende war das Gefühl, ich sei der einzige, der etwas nicht verstand, was die anderen längst verstanden hatten. Morgen früh, während des Rundgangs, würde ich wieder so tun, als hätte ich alles verstanden. Das heißt, ich spielte das Verstehen. Allerdings war mir diese Vortäuschung seit meiner Kindheit vertraut. In Wahrheit verstand ich auch das gespielte Verstehen nicht. Meistens war es so: Ich vergaß nach einiger Zeit, dass ich etwas nicht verstanden hatte. Freilich vermutete ich, dass auch die anderen nichts verstanden. Alle spielten das Verstehen! Was das endlich die Wahrheit? Als Kind hatte ich oft Angst, dass das Nichtverstehen allmählich in eine Art Verrücktheit überging. Allerdings war das Nichtverstehen in der Kindheit auch wohltuend und genussreich. An meinem Unverstand meinte ich zu erkennen, dass ich ein wirklich erschaffenes Wesen war, das heißt, ich fühlte in mir deutlich den Gedanken einer wirren Schöpfung. Kurz danach kam oft der Gedanke: Der Schöpfer hat dich nicht zu Ende erschaffen. Nach einiger Zeit hat er die Lust an dir verloren und ließ dich halb erschaffen zurück. So lebte ich in meinen inneren Tiraden dahin. Neu war, dass mir zuweilen ein paar Tränen in die Augen schossen. Gründedafür wusste ich nicht. Meine Eltern waren schon lange tot, ein anderer, mir nahestehender Mensch war nicht gestorben. Maria strotzte vor Kraft und Zuversicht. Im Augenblick nahm ich an, die Tränen seien ein Begleitzeichen für endgültige Vereinsamung. Oder sie waren die Visitenkarten des Todes! So pathetisch dachte ich morgens. Vielleicht weinte ich auch wegen Maria. Bei ihrem letzten Besuch ließ sie durchblicken, dass sie nicht mehr unbedingt heiraten wolle. Es genüge ihr, sagte sie, einen Mann zu kennen. Als Grund für ihre Zurückhaltung nannte sie mein Eigenbrötlertum. Als Beispiel nannte sie, dass ich mich schon seit längerer Zeit weigerte, neue Bettsachen zu kaufen. Obwohl du noch jung bist, hast du schon das Verhalten eines älteren Mannes. Diese Bemerkung traf mich im Innersten. Gleichzeitig bewunderte ich Maria für ihre treffsichere Beobachtung. Ich fand es allerdings geschmacklos, dass sie mir ausgerechnet im Gefängnis solche Vorhaltungen machte. Aber sie hörte nicht auf, im Gegenteil.
Du brauchst nicht nur neue Bettlaken und ein neues Plumeau und mindestens zwei neue Kissen, sagte sie.
Ich schwieg.
Du brauchst auch ein neues Bett, sagte sie. Aus deinen Bettsachen fliegen die Federn, das scheint dir nichts auszumachen.
Ich fürchtete schon, dass sie gleich über meine fortgeschrittene innere Erstarrung reden würde. Aber danach hörte sie auf und verabschiedete sich bald. Jetzt lag ich im Dunkeln auf meiner Pritsche und nahm mir vor, sofort nach der Entlassung ein neues Bett und neue Bettwäsche zu kaufen. Ich hoffte tatsächlich, mir mit diesen Anschaffungen Marias Gunst auf Dauer sichern zu können. Es
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