Wenn Wir Tiere Waeren
sofort, dass meine Ahnung zutreffend war: Sie hatten erfahren, dass ich wegen Betrugs einsaß, und lösten das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung. Von meiner Schlafpritsche erhob sich eine Motte. Im matten Licht schimmerten ihre kleinen Flügelchen wie fliegendes Altgold. Die Motte durchquerte die Zelle, ich verfolgte sie mit Blicken. Sie stürzte auf die Konsole über dem Waschbecken und landete in einer Staubschicht, von der sie nicht mehr hochkam. Der Staub drang rasch in ihre Flügel ein und erstickte kurz danach ihr Leben.
Bald erschien der Haftrichter erneut in meiner Zelle. Er hatte eine befreiende Nachricht für mich. Ihr Verfahrenwird wegen Geringfügigkeit eingestellt, sagte er. Ich wollte es zuerst nicht glauben. Packen Sie Ihre Sachen, sagte er, in einer Stunde dürfen Sie gehen. Ein paar Sekunden lang war mir nicht klar, ob sich der Haftrichter einen Scherz erlaubte. Nach zwei Minuten war ich wieder allein. Ich suchte die Wäsche zusammen, die Maria mir zuletzt gebracht hatte, und sammelte meine Waschutensilien ein. Ich besaß nicht einmal eine Plastiktüte. Der Schließer hatte eine, und er schenkte sie mir. Nach etwa eineinhalb Stunden erschien er erneut und ließ mich gehen. Zehn Minuten später öffnete sich die hohe Stahltür, die mir von meiner Einlieferung vertraut war. Ich hob mir den Zipfel eines frischen Unterhemds unter die Nase und sog meinen Geruch ein. An der Pforte gaben mir zwei Beamte mein Schlüsselbund und das Kleingeld zurück, das ich bei der Einlieferung hatte abgeben müssen. Ich musste den Empfang quittieren, dann war ich draußen.
Mir war ein wenig feierlich zumute. Ich lief in Richtung Innenstadt. Ringsum ereignete sich nichts. Die Stadt war auf die übliche lebendige Weise tot, die mich oft irritierte. Ich bewunderte einen Säugling, der in einem Kinderwagen an mir vorübergefahren wurde. Das Kind schrie und hielt zugleich, mit ganz kurzen Saugintervallen, den Schnuller im Mund. Ein Mann lehnte an einem Eisengeländer und aß mit einer weißen Plastikgabel eine Art Nudelmahlzeit aus einer Pappschachtel heraus. Ich wollte zuerst in die Wohnung und von dort aus Maria anrufen. Vorher wollte ich in einem Supermarkt ein paar Lebensmittel kaufen. Ich war dankbar, dass das Gefängnis das Leben draußen nicht komplizierter gemacht hatte. An der Imbiss-Theke einer Metzgerei bestellte ich eine Bockwurst mit Brot. Die Bockwurst aß ich auf, das Brot nahm ich mit nach Hause, ausunbestimmter Furcht. Einmal blieb ich vor den Schaufenstern eines Modegeschäfts stehen, weil aus zwei Lautsprechern oberhalb der Schaufenster eine flüssig-cremige Musik auf die Straße heraustönte. Die Musik half mir, die Rückkehr ins Leben normal zu finden. Der Anblick jeder Frau, die an mir vorbeiging oder auf dem Fahrrad vorüberfuhr, rief in mir einen kleinen klagenden Schmerz hervor, den ich nicht verstand. Die in den Blusen auf- und abwippenden Brüste empfand ich als etwas rätselhaft Entschwundenes, das mir eine Erklärung schuldig schien. Im Supermarkt kaufte ich etwas Wurst und Käse, Obst und Milch, ein kleines Brot, Margarine und Haarshampoo. Ich ging davon aus, dass mich das Gefängnis ein wenig eigentümlich gemacht hatte. Ich wartete auf Anzeichen dieser neuen Eigentümlichkeit, die sich nicht zeigten. Man sollte in eine Klinik gehen und fragen dürfen: Würden Sie bitte nachschauen, ob ich im Kopf noch ganz klar bin? An der Kasse sah ich, dass ein Kunde einer Kassiererin ein Trinkgeld von zwei Euro hinschob. Das ist für Sie, sagte der Kunde. Die Frau steckte die beiden Münzen in ihre Kittelschürzentasche und lächelte dankbar. War das möglich? Verdienten Kassiererinnen inzwischen so wenig, dass Kunden zu ihrem Lebensunterhalt beitragen mussten? Die Frau an der Kasse war nicht im geringsten verwundert. Sie nickte mehrmals mit dem Kopf und sagte: Danke. Waren die Kassiererinnen in wenigen Tagen arm geworden? Ich drückte mich noch eine Weile in der Nähe der Kasse herum und wollte sehen, ob noch andere Kunden … aber dann wurde mir die Wirklichkeit langweilig, und ich wandte mich ab.
Als ich wenig später meine Wohnung betrat, dachte ich: Hier wohne ich nicht mehr. Die Wohnung hatte sich inmeiner Abwesenheit in eine Art Museum meines vergangenen Lebens verwandelt. Ich zog die Schubladen meiner Kommode heraus und dachte: Warum hat niemand das alte Zeug weggeworfen? Ich öffnete die Fenster zur Straße. Unten, auf der Straße, keuchte ein Hund vorüber.
Ich bins, sagte ich wenig
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