Wer abnimmt, hat mehr Platz im Leben
Aber es war sehr teuer. Wir fuhren zu viert in das Jogger- und Walker-Paradies von Willi Kenzenich, und mir wurde wieder einmal bewusst, dass die Entscheidung pro Familie ungeheure finanzielle Konsequenzen nach sich ziehen kann. Nach einer kurzen Diskussion mit meiner Tochter darüber, ob bauchfreie Funktionsshirts zu dieser Jahreszeit angebracht sind oder nicht, und nachdem mein Sohn mich darüber aufgeklärt hatte, dass Tights deswegen Tights heißen, weil sie eng anliegen müssen und man sie nicht drei Nummern zu groß und mit dem Hintern in den Kniekehlen trägt, waren wir durch. Und nachdem Frau und Kinder in den Joggingklamotten ähnlich schnell aussahen wie ich, war das Haushaltsgeld für diesen Monat unter das Existenzminimum geschrumpft.
Die Klamotten waren gekauft, der Haussegen hing wieder einigermaßen gerade, jetzt ging es darum, dieses Haus erstmalig zu verlassen, um unsere Funktionskleidung ihrer Bestimmung zu übergeben. Dafür gab es mehrere Möglichkeiten:
Sportvereine bieten Lauftreffs an, in der Volkshochschule kann man Kurse buchen, Dr. Thomas Wessinghage hat Bücher darüber geschrieben. Das Internet quillt über vor lauter Tipps und Erlebnisberichten mit knackigen Titeln wie »Vom Fernsehsessel zum New-York-Marathon in sieben Wochen«!
Vielleicht sollte man erst mal einen Arzt aufsuchen. Ich hatte gelesen, dass der ortsansässige Leichtathletikverein einen Marathonlaufvorbereitungseinführungskursus für Anfänger anbietet. Die gehen das rein analytisch an. Da wird man zuerst mal gründlich durchgecheckt, um hinterher anhand der Laktatwerte, der Ergebnisse einer Lungenfunktionsprüfung und einer detaillierten Körperfettanalyse in unterschiedliche Risikogruppen eingeteilt zu werden. Aber mir war klar, dass ich nach einer solchen Tortur zwingend in der Schwangerengruppe enden würde. Und nach meinen ersten Erfahrungen in Willi Kenzenichs Jogger-Eldorado wäre ich im »Hechelkurs« auch genau richtig.
Es konnte gar nicht anders ausgehen. Das wusste ich. Ich bin schließlich ein gebranntes Kind. Das Übergewicht und die Unsportlichkeit sind mir quasi in die Wiege gelegt.
Ich kam am 19 . April 1961 mit dem rekordverdächtigen Lebendgewicht von zwölf Pfund per Hausgeburt zur Welt. Ich war einundsechzig Zentimeter groß, und meiner Mutter war noch einen Tag vor der Entbindung glaubhaft versichert worden, dass es sich bei der zu erwartenden Nachkommenschaft ganz sicher um Zwillinge handeln müsse. Angeblich sagte der Doktor, nachdem er dieses rosigen Babys mit den gewaltigen Ausmaßen ansichtig wurde: »Frau Stelter, gucken Sie sich den Jungen noch mal ganz genau an. Der ist so fett, dem sind morgen die Augen zugewachsen.«
Meine frühe Jugend verlief nicht viel erfolgversprechender. Im Sportunterricht der evangelischen Grundschule in Unna-Lünern gab es ein Geschicklichkeitsspiel. Auf dem Hinweg musste man über die lange Turnhallenbank springen, sich dann am anderen Ende flach auf den Bauch legen und unter der Bank zurückkriechen. Es war ein trüber Oktobertag im Jahre 1968 , als ich das erste Mal unter diesem Mistding feststeckte. Bei mir bekam das Wort »Breitensport« halt eine ganz neue Bedeutung.
Meine Schulzeit war gepflastert mit demütigenden Sportunterrichtserlebnissen. Mit ist noch ein Fünfzehnhundertmeterlauf in schmerzhafter Erinnerung, bei dem der Sportlehrer rief: »Stelter, einen Schritt langsamer, und du gehst rückwärts!«
In Sport habe ich kein einziges Mal eine Drei gehabt. Bei den Bundesjugendspielen bekamen die einen Siegerurkunden, die anderen Ehrenurkunden. Ich bekam Seitenstechen. Bei der Mannschaftsauswahl vor Fußballspielen wurde ich prinzipiell als Letzter gewählt. Noch nach den Mädchen. Und die Mannschaft, in der ich war, bekam drei Tore Vorsprung. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn es damals im Fach Sport einen PISA -Test gegeben hätte, hätte ich mit meiner Leistung vermutlich ganz Deutschland reingeritten.
Wieso sollte sich das ausgerechnet jetzt geändert haben? Ich hatte die Kondition eines Zweifingerfaultiers beim Mittagsschlaf und Bauchringe wie das Michelin-Männchen. Wenn ich mein Handy von der linken in die rechte Hand wechseln wollte, musste ich es werfen. Wenn ich nachts aus dem Bett fiel, dann auf beiden Seiten gleichzeitig. Ich hatte einen regelrechten Spiegeleier-Bauch – nicht weil ich so viele Spiegeleier gegessen hatte, sondern weil ich einen Spiegel brauchte, um … Ist ja auch egal.
Nein, in diesem Zustand musste ich meine
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