Wer Andern Eine Grube Gräbt: Mitchell& Markbys Fünfter Fall
Vorherbestimmung. Und ich dachte immer, Polizisten würden nur mit anklagenden Fingern auf die Schuldigen zeigen und sagen: ›Alles, was Sie von jetzt an sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden‹.«
»Das tun wir auch. Und ich bin auch kein Theologe, sondern tatsächlich Polizist. Trotzdem habe ich ein Recht auf eine persönliche Sichtweise. Im Allgemeinen bin ich nicht überspannt, und meine Bemerkung war auch keinesfalls so gemeint. Ich habe lediglich versucht, deutlich zu machen, dass Sie sich die Angelegenheit nicht so sehr zu Herzen nehmen sollen. Wir wissen immer noch nicht, warum Natalie Woollard sterben musste, und wir wissen erst recht nicht, warum Finny gestorben ist – oder wo und wie.« Allerdings konnte er durchaus bereits die eine oder andere Vermutung anstellen, genau wie Ursula und jeder andere, der ein wenig länger nachdachte. Natalies Leichnam war unten im Steinbruch gefunden worden. Von Finnys Haus aus konnte man den Weg hinunter zur Müllhalde übersehen. Vielleicht wusste oder befürchtete Natalies Mörder, dass Finny Informationen besaß und diese bei der Verhandlung preisgeben würde, und daher hinderte er Finny an der Aussage vor Gericht. Hatte Finny etwas gesehen oder gehört? Eine Person? Jemand Verdächtigen? Jetzt würde es für immer sein Geheimnis bleiben. Finny hatte die Antwort mit ins Grab genommen. Buchstäblich. Markby runzelte die Stirn.
»Nebenbei bemerkt, mir ist durchaus bewusst, dass jeder hier bei der Grabung inzwischen mit den Nerven am Ende sein muss, doch ich glaube nicht, dass Wulfric der Sachse seine Hand im Spiel hat – bei allem Respekt gegenüber Miss Colmar! Ich beabsichtige keinesfalls, mir von längst toten Stammesfürsten in meine Arbeit pfuschen zu lassen.« Ursula lachte nervös.
»Renee? Ihre Reaktion war ein wenig überspannt, auch wenn ich verstehen kann, wie sie sich fühlt. Sie hat – jedenfalls Recht mit ihrer Aussage, dass wir alle das Gefühl hatten, beobachtet zu werden. Manchmal war das Gefühl so stark, dass sich mir die Nackenhaare gesträubt haben.«
»Wahrscheinlich lag es am Wind. Auf diesem Hügel geht ständig Wind. Aber Sie haben vorhin eine überraschende Behauptung aufgestellt. Sie sagten, jemand würde Sie hassen, Sie alle. Warum glauben Sie das?«
»Wegen der Art und Weise, wie sich die Dinge darstellen. So schrecklich, so … so vorsätzlich und so verdreht! Natalies Leiche, eingerollt in einen Teppich! Finny in einem Sachsengrab! Das soll uns Angst machen, es ist eine Art boshafte Botschaft – etwas Unversöhnliches, auf eine ganz persönliche Art und Weise.«
»Also gut, nehmen wir den ersten Fall. Der Teppich. Woollard sagte, das erinnere ihn an Kleopatra. Ich bin nicht bewandert in klassischer Geschichte, aber ich glaube mich zu erinnern, dass die junge Kleopatra sich in einen Teppich eingerollt bei Cäsar vorgestellt hat. Aber was hat das mit der Grabung zu tun?«
»Nichts, es sei denn …« Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Es lässt Natalie als eine Art Femme fatale dastehen.«
»Und? War sie das? Ich habe Mrs. Woollard nie kennen gelernt. Ich habe sie nur als Leiche gesehen, und dieser Anblick trügt. Ein Gesicht ohne Leben und Ausdruck verrät überhaupt nichts.« Ursula blickte unbehaglich drein.
»Ich rede nicht gerne über Natalie, erst recht nicht hinter ihrem Rücken. Schon gut, ich weiß, dass sie tot ist. Sie war gut aussehend und rastlos. Klein und zierlich mit einem herzförmigen Gesicht, sehr heller Haut und großen dunklen Augen mit langen Wimpern. Sie besaß dichtes dunkles Haar, glatt und zu einem Bubikopf geschnitten. Für mich sah sie immer aus, als gehörte sie eigentlich in die Zwanzigerjahre mit ihren vielen Perlenketten und den Strumpfbändern unter den kurzen Röcken. Klingt das jetzt gehässig genug für Sie?« Sie hob eine Augenbraue.
»Das beantwortet meine Frage nicht richtig. Ich habe selbst gesehen, dass sie zierlich und dunkelhaarig war. Nach Ihren Worten war sie eine sehr lebenslustige Person. Wirkte sie attraktiv auf Männer?«
»Das müssten Sie eigentlich einen Mann fragen, oder nicht? Wenn sie hin und wieder einmal bei einem Empfang der Stiftung aufgetaucht ist, dann stand sie jedenfalls meistens im Mittelpunkt. Sie war berühmt wegen ihrer Bücher, deswegen kannte sie sich aus mit dem Gefühl, von allen beachtet zu werden. Wenn jemand ihre Bücher gelesen oder auch nur davon gehört hatte, nahm er wohl automatisch an, dass sie eine Sexmieze der allerersten Güte sein
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