Wer bin ich ohne dich
Männchen wieder auf …
Auch reale Frauen wollen oft lange Zeit nicht wahrhaben, wie gefährlich ihr Verhalten für ihre seelische Gesundheit ist. Sie wollen nicht realisieren, dass sie ein ernsthaftes Problem haben. Mit aller, manchmal mit letzter Kraft bewältigen sie ihren Alltag. Ihr Unglücklichsein und ihre Erschöpfung erklären sie sich mit zu wenig Schlaf, zu viel Arbeit, zu wenig Freizeit. Sie verschließen die Augen vor Warnzeichen, bekämpfen ihre Schlaflosigkeit, ihre Migräne, ihre Rückenbeschwerden oder ihre Einsamkeit wahlweise mit Beruhigungs- oder Schmerzmitteln, Alkohol, Essen oder Arbeit. Sie hoffen auf die nächsten freien Tage, den nächsten Urlaub, damit sie mal wieder richtig ausschlafen und sich erholen | 29 | können. »Wenn ich nur mal wieder eine längere Pause machen könnte, wäre alles wieder im Lot«, sagen sie und ignorieren Gefühle und Gedanken, die ihnen anderes signalisieren. Sie fühlen sich unvollständig, sind zutiefst unglücklich, aber sie wollen nicht wissen, was wirklich mit ihnen los ist. So wie die Müllerstochter verleugnet, dass es das Männchen und seine Forderung gibt, so leben auch Frauen, die depressionsgefährdet sind, in der Verleugnung.
Zwei Jahre nach ihrer Scheidung verliebt sich die 42-jährige Imke in einen ebenfalls geschiedenen Mann. Dessen 15-jährige Tochter lebt bei ihm. Von Anfang an spürt sie die Eifersucht des Mädchens, glaubt aber, dass sich das schon legen wird. Auch wenn es ihr immer wieder weh tut, zurückstecken zu müssen, versteht sie, dass ihr Freund in Konflikt- und Entscheidungssituationen zur Tochter hält. Diese hat schließlich viel mitgemacht. Fühlt Imke sich ausgeschlossen und einsam, schimpft sie mit sich selbst oder macht ihre berufliche Belastung für ihre depressive Stimmung verantwortlich. Sie hat schließlich zwei Jobs, denn nach der Scheidung reicht das Geld hinten und vorne nicht. Nach 8 Stunden im Sekretariat einer Anwaltskanzlei jobbt sie noch in einer Kneipe. Sie glaubt: »Wenn ich weniger arbeiten könnte, oder wenn ich mehr Wertschätzung in der Arbeit bekommen würde, ginge es mir besser.« Dass ihr Freund, der ziemlich ordentlich verdient, sie finanziell nicht entlasten kann, leuchtet ihr ein: Er hat ja die Tochter!
Fünfte Parallele: Wie reagiert die Königin auf den Besuch des Männchens und seine Forderung, ihr das Kind auszuhändigen? Sie erschrickt fürchterlich und versucht, sich mit all ihren Reichtümern freizukaufen. Doch das Männchen lässt sich nicht mit »Reichtümern« abspeisen, es will etwas »Lebendiges«.
So wie die Königin versucht sich freizukaufen, so bieten auch reale Frauen ihre Reichtümer an. Sie strengen sich noch mehr an, | 30 | um ihre Ziele zu erreichen und die Erwartungen, die andere real oder vermeintlich an sie stellen, zu erfüllen. Sie verdoppeln ihren Einsatz. Noch immer wollen sie ihre Situation nicht wahrhaben.
Auch Imke glaubt, dass sie die Schwierigkeiten in der kleinen Patchworkfamilie in den Griff bekommen kann, wenn sie sich um die Zuneigung der Tochter ihres Freundes bemüht. Regelmäßig bringt sie ihr Geschenke mit (die immer teurer werden), regelmäßig schweigt sie, wenn ihr Freund sie in die zweite Reihe schiebt. Sie schluckt ihren Ärger und ihre Enttäuschung hinunter, wenn er einen geplanten Konzertbesuch, einen Wochenendtrip, einen Museumsbesuch oder einen gemütlichen Abend bei ihr kurzfristig absagt, weil seine Tochter ihn braucht oder andere Pläne mit ihm hat. Merkt der Freund dann doch, dass etwas mit ihr nicht stimmt, wiegelt sie ab: »Es ist nichts, ich habe nur mal wieder Migräne.« Und die hat sie tatsächlich. Oft so stark, dass sie den Notarzt holen muss.
In einer Interviewstudie der Psychotherapeutin Rita Schreiber mit depressiven Frauen, die im Kapitel »›Ich bin doch nicht depressiv!‹ Wie Frauen sich ihre Krankheit erklären« ausführlich Erwähnung findet, beschrieben diese ihren Zustand folgendermaßen: »Ich bin verloren gegangen«, »Ich fühle mich getrennt von anderen«, »Ich weiß nicht mehr, wer ich bin«, »Ich fühle mich wie im Nebel«, »Ich bin in einem dunklen Loch gefangen, isoliert vom Rest der Welt«. Diese Gefühle machten ihnen große Angst. Diese Angst war so intensiv und real, dass sie alles versuchten, um ihr zu entkommen – wie die Königin im Märchen versuchten sie sich freizukaufen, indem sie all ihren Reichtum einsetzten: noch besser sein, noch liebenswürdiger sein, noch perfekter sein, noch mehr arbeiten,
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