Wer bin ich ohne dich
subjektive Wohlbefinden der Frauen im Vergleich zu dem der Männer damit nicht Schritt halten konnte: In den vergangenen vier Jahrzehnten sind Frauen immer unglücklicher geworden.
Eine schottische Studie mit 15-jährigen Mädchen zeigt einen erschreckenden Trend. Waren im Jahr 1987 »nur« 19 Prozent | 37 | der Mädchen in dieser Altersgruppe an Depressionen oder Ängsten erkrankt, so stieg ihr Anteil bis zum Jahr 2006 auf 44 Prozent. Zum Vergleich: Die Erkrankungsrate der 15-jährigen Jungen lag bei 21 Prozent.
Etwa zwei Drittel aller depressiven Patienten, die von Psychiatern behandelt werden, sind Frauen. Entsprechend nehmen auch mehr Frauen als Männer Medikamente gegen Depressionen ein. Frauen erhielten im Schnitt mit 10,5 Tagesrationen deutlich mehr Antidepressiva als Männer, die Medikamente für sechs Tage verschrieben bekamen.
Kann man aus diesen Zahlen schlussfolgern, dass Frauen besonders anfällig für seelische Störungen und Männer das psychisch robustere Geschlecht sind? Nein. Diese Schlussfolgerung ist eindeutig nicht zulässig. Denn: Psychische Störungen sind in der Bevölkerung annähernd gleich verteilt.
Sowohl Männer als auch Frauen erkranken gleichermaßen an Schizophrenie oder Psychosen. Und auch die schwerste Form der Depression, die bipolare Ausprägung, betrifft beide Geschlechter in ähnlichem Ausmaß. Wer an der bipolaren Depression erkrankt, erlebt nicht nur depressive, sondern auch manische Phasen. Typisch für manische Episoden sind im Gegensatz dazu ein übermäßiger Tatendrang, euphorische Stimmung, fehlendes Schlafbedürfnis und der Zwang, übermäßig viel Geld auszugeben.
Bipolare Depressionen, Schizophrenien und Psychosen treffen also beide Geschlechter gleichermaßen. Deutliche Geschlechtsunterschiede finden sich nur bei der sogenannten unipolaren Depression (auch Dysthymie genannt). Von ihr sind Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer. Diese Depressionsform ist gekennzeichnet durch Symptome wie | 38 |
verminderten Antrieb oder gesteigerte Müdigkeit,
depressive Stimmung in einem ungewöhnlichen Ausmaß, die fast jeden Tag und mindestens über zwei Wochen hinweg auftritt,
Verlust an Interessen, keinerlei Freude mehr an Tätigkeiten, die einem früher mal Spaß und Befriedigung gebracht haben,
Verlust des Selbstvertrauens und des Selbstwertgefühls,
Selbstvorwürfe und Selbstzweifel,
Konzentrationsschwäche,
Schlafstörungen,
Appetitverlust oder gesteigerter Appetit.
Dass Frauen in erster Linie an der unipolaren Depression erkranken, ist eine Tatsache, die so gar nicht zu dem Bild passen will, das Frauen heute in der Gesellschaft abgeben. Sie sind doch die Tüchtigen, die Starken, die Widerstandsfähigen, die Problemlöserinnen, die Sorgenden. Sie sind doch für andere da, wenn diese sie brauchen, sie kümmern sich um Partner, Kinder, Freunde, Kollegen, alte Eltern, wenn diese Sorgen haben oder Unterstützung brauchen. Warum sind ausgerechnet sie, die doch so kompetent und stark wirken, so gefährdet?
Sucht man in der Fachliteratur nach den Ursachen für das hohe Depressionsrisiko von Frauen, stößt man auf die immer gleichen Erklärungen.
Verzerrte Diagnosen
Immer wieder äußern Experten Zweifel daran, ob Frauen wirklich depressiver sind als Männer. Sie glauben, dass die Diagnosen | 39 | der Ärzte verzerrt sind. So ist beispielsweise auf der Internetseite des »Kompetenznetz Depression« zu lesen: »Frauen sprechen eher über ihre Ängste und Stimmungsschwankungen und werden eher als depressiv eingeordnet, während bei Männern oft organische Ursachen vermutet werden. Das unterschiedliche Verhalten der Geschlechter und das unterschiedliche Diagnoseverhalten der Ärzte spielen also möglicherweise eine Rolle.« In der Tat gibt es Hinweise darauf, dass diese Annahme nicht aus der Luft gegriffen ist. So kamen amerikanische Wissenschaftler in einer Untersuchung an über 23 000 Patienten zu dem Schluss, dass Mediziner überdurchschnittlich häufig depressive Erkrankungen bei Frauen diagnostizieren, während sie bei Männern entsprechende Symptome übersehen oder mit einer anderen Diagnose belegen. Tatsächlich machen es Männer den Ärzten oft schwer, die Anzeichen einer Depression rechtzeitig zu erkennen: Das als »stark« geltende Geschlecht will sich nicht schwach zeigen und neigt deshalb dazu, depressive Symptome zu verleugnen. Männer suchen erst dann einen Arzt auf, wenn sie ihm »handfeste« Symptome – wie Magenschmerzen, Herzbeschwerden oder
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