Wer Bist Du, Gott
es mir einrede, sondern indem ich in mich selbst hineinhorche. Ich versuche, meiner Angst, meiner Depression, meiner Unruhe, meiner Unzufriedenheit auf den Grund zu gehen. Dann erlebe ich, dass alle meine Gefühle und meine Leidenschaften letztlich in den Grund meiner Seele führen.
Dort, auf dem Grund meiner Traurigkeit, auf dem Grund meiner Unruhe, auf dem Grund meiner Sexualität, auf dem Grund meiner Angst, auf dem Grund meiner Empfindlichkeit, erahne ich Gott als den, der mich mit meinen Gefühlen trägt. Er nimmt mir nicht meine Probleme ab.Aber er ist der Grund, auf den ich stoße, wenn ich durch alle meine Gefühle und Emotionen, durch meine Gefährdungen und Leidenschaften hindurchgehe. Dort, im Grund der Seele, finde ich den felsigen Grund, auf den ich mein Lebenshaus bauen kann. Es ist der Grund, von dem Jesus spricht, wenn er vom klugen Mann erzählt, der sein Haus auf Fels baute und nicht auf den Sand seiner Illusionen, seiner Emotionen, seiner eigenen Gottesvorstellungen.
WUNIBALD MÜLLER: Ich kenne Situationen in meinem Leben, in denen ich nicht das Gefühl hatte, von Gott getragen und gehalten zu werden. So erinnere ich mich an eine Situation in meinem Leben, in der ich bitter enttäuscht wurde von Menschen, denen ich nahezu bedingungslos vertraut hatte. Ich erlebte ihr Verhalten mir gegenüber als
totalen Vertrauensbruch, mit der Folge, dass ich in eine Erfahrungswelt einbrach, in der ich, wie kaum zuvor in meinem Leben, Angst und Unsicherheit erfuhr. Ich war so erschüttert, dass ich seelisch größte Mühe hatte, mit mir zurechtzukommen. Ich fiel um wie ein Baum, der auf sandigem Boden gepflanzt ist, dessen Wurzeln nicht tief genug in guter Erde verwurzelt sind. Diesem Sturm in meinem Leben war ich nicht gewachsen.
Ich ging »zu Grunde«. Alles, was mich bisher getragen hatte, was für mich wie ein Boden unter den Füßen war, ging zu Grunde. Ich musste Abschied nehmen von Menschen, denen ich bisher bedingungslos vertraut hatte. Ich musste Abschied nehmen von einem Glauben, der gegenüber der Wirklichkeit meines Lebens nicht mehr länger bestehen konnte. Ich musste Abschied nehmen von dem idealen Bild, das ich von mir selbst hatte, da dieses Bild zu wenig die dunklen Seiten von mir berücksichtigt hatte, die Möglichkeit des Scheiterns darin keinen Platz hatte.All das brach in sich zusammen, ging zu Grunde. Ich stürzte in das Nichts, in einen Abgrund, in meinen Abgrund. Das war eine furchtbare Erfahrung, eine Zeit, in der sich eine depressive Stimmung meiner bemächtigt hatte und ich manchmal der Verzweiflung nahe war. Nur langsam kam ich mithilfe von Freunden und Begleitern wieder auf die Füße.
ANSELM GRÜN: Die Erfahrung von Enttäuschung gehört zu unserem Leben und zu unserem Weg mit Gott. Ich erlebe, dass wir unsere Erwartungen an Gott oft mit den Erwartungen an die Menschen verbinden. Wir erwarten, dass die Menschen uns genauso tragen wie Gott, dass das Vertrauen
uns trägt, dass die Freundschaft uns trägt, dass die Gemeinschaft, die gemeinsame Arbeit uns trägt. Doch all das erleben wir immer wieder auch als brüchig. Normalerweise reagiere ich dann auch enttäuscht und manchmal verbittert auf die Brüchigkeit dessen, worauf ich vertraut hatte.
Aber nach einiger Zeit wird mir dann klar, dass ich noch nicht im Grund meiner Seele angekommen bin, sondern dass ich Gott im emotionalen Bereich gesucht habe, in dem Bereich, in dem ich mich wohlfühle. Dieser Bereich enttäuscht mich und drängt mich dazu, tiefer in den Grund meiner Seele hinabzusteigen, durch alle Gefühle und Vorstellungen von einem erfüllten Leben hindurch auf den Grund der Seele zu gelangen, der zugleich Abgrund ist, von abgründiger Tiefe, die ich nicht mehr auszuloten vermag.
Von der dunklen Nacht der Seele
WUNIBALD MÜLLER: Heute weiß ich, dass solche Erfahrungen, bei denen wir durch die Hölle gehen müssen, in unserem Leben nötig sind. Ja, dass es manchmal dafür höchste Zeit ist. Warum? Ja, warum? Ganz einfach: Weil wir uns etwas vormachen, weil wir uns zu sicher sind, von Gott geküsst zu sein, uns letztlich für unverwundbar wähnen. Wir denken, wir hätten ein gutes Verhältnis, eine tragfähige Beziehung zu Gott. Allein das ist letztlich oberflächlich. Die Beziehung zu ihm geht nicht in die Tiefe und kommt nicht aus der Tiefe. So muss zu Grunde gehen, was für uns nicht
länger Grund sein kann.Wir müssen zu Grunde gehen. Das, was wir uns als unsere Welt, als unsere Beziehung zu anderen
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