Wer Blut vergießt
sie: »Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Der Opferschutzbeamte, den Sie geschickt haben, macht das sehr gut. Er ist jung und sieht gut aus, und sie scharwenzelt die ganze Zeit um ihn herum. Widerlich, aber wenigstens habe ich so meine Ruhe. Sie fragt ihn alle fünf Minuten nach seiner Meinung zu den Beerdigungsvorbereitungen, und er antwortet ihr mit einer wahren Engelsgeduld.«
Als sie oben ankamen, saß Melody schon in einer ruhigen Ecke des Wartebereichs, vor sich drei Pappbecher mit Tee. Als Amanda nach ihrem Becher griff, zitterten ihre Hände ein wenig.
»Ich war heute Morgen in Ihrer Kanzlei«, sagte Melody. »Alle fragen dort nach Ihnen.«
»Die Kollegen waren sehr nett. Sie haben Blumen und Karten geschickt, und Mr Spencer hat mich angerufen.«
»Ich sehe schon, dass man in der Kanzlei große Stücke auf Sie hält«, sagte Melody. »Werden Sie bald wieder arbeiten gehen?«
Amanda zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, was angemessen wäre. Und wenn der Opferschutzbeamte mal nicht mehr da ist, weiß ich nicht, wie ich mit meiner Mutter klarkommen soll. Wenn ich den ganzen Tag bei ihr zu Hause hocken muss, drehe ich durch, das sage ich Ihnen.« Bei dem Gedanken wurde sie ganz blass, und sie wirkte noch verstörter als beim Anblick der Leiche ihres Bruders.
»Sind Sie Shauns Nachlassverwalterin?«, fragte Gemma.
»Ja. Gott sei Dank war er vernünftig genug, Mutter nicht damit zu belasten. Nach dem, was ich so mitbekommen habe, hat er in finanzieller Hinsicht ein Chaos hinterlassen. Schulden über Schulden, und die Wohnung ist bis zum Anschlag belastet, sodass der Verkauf nicht annähernd seine Außenstände decken wird. Und diesmal gibt es keine Lebensversicherung. Sagen Sie …« Sie sah Gemma an. »Was mit Shaun passiert ist – das war nicht etwa ein … Unfall, bei dem er ein bisschen nachgeholfen hat?«
Wie der ihres Vaters, dachte Gemma. »Nein. Wir sind sicher, dass Shaun ermordet wurde.« Sie fing Melodys Blick auf – sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihr von Rashids Erkenntnissen zu berichten. »Amanda, wissen Sie, ob Shaun je Drogen oder Aufputschmittel genommen hat?«
»Er hat als Teenager das eine oder andere ausprobiert, glaube ich, aber nie besonders ernsthaft. Wieso?«
»Wir müssen diese Frage stellen«, sagte Gemma. »Und hat er viel getrunken?«
»Alkohol ist die bevorzugte Droge der Anwälte, nicht wahr?« Amanda hatte wieder etwas von ihrer Scharfzüngigkeit zurückgewonnen. »Und Shaun hat gerne getrunken. Aber es war nicht seine Art, sich sinnlos zu betrinken. Er behielt gerne alles unter Kontrolle.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und verzog das Gesicht, ehe sie Gemma fragend ansah. »Aber wenn Sie sicher sind, dass Shaun ermordet wurde, warum fragen Sie mich dann nach Alkohol und Drogen? Glauben Sie, dass er in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte? O Gott, wenn er in etwas Illegales verwickelt war und es herauskommt …«
»Das wissen wir nicht«, versuchte Gemma sie zu beruhigen. »Wir wissen nicht, welches Motiv jemand gehabt haben könnte, Ihren Bruder zu ermorden, also müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
Melody beugte sich vor und umfasste ihren Becher mit beiden Händen. »Mr Spencer von Ihrer Kanzlei sagt, er wisse von keiner Verbindung zwischen Shaun und dem anderen Anwalt, der ermordet wurde, Vincent Arnott. Gibt es vielleicht irgendwelche Rechtsangelegenheiten, die Sie bearbeitet haben und die Mr Spencer nicht zu Gesicht bekommen hat?«
»Nein.« Amandas Augen weiteten sich. »Dieser Arnott – Sie haben mich gefragt, ob Shaun ihn gekannt hat. Sie haben nicht gesagt, dass er ermordet wurde. Wer war er? Was ist da passiert?«
»Wir können zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht über eine laufende Ermittlung sprechen«, erwiderte Gemma. Wäre ihr Bruder nicht ermordet worden, hätte Amanda sicherlich in der Zeitung davon gelesen. Aber früher oder später würde irgendjemand es ihr erzählen, und es war besser, wenn sie vorbereitet war. »Mr Arnott wurde unter ähnlichen Umständen aufgefunden wie Ihr Bruder. Wir …«
»Sie glauben, dass ein und derselbe Täter sie ermordet hat?« Amanda wurde lauter. »Warum sind Sie dann nicht …«
»Das wissen wir nicht«, unterbrach sie Gemma. »Wir ermitteln in alle Richtungen. Aber in der Zwischenzeit wollen Sie doch sicher nicht, dass die Boulevardpresse die Details über den Tod Ihres Bruders auf den Titelseiten ausbreitet. Ich bitte Sie daher eindringlich, Amanda, mit niemandem über diese
Weitere Kostenlose Bücher