Wer Blut vergießt
junge Dame im Gefühl ihrer Wichtigkeit zu bestärken. »Sie sind doch Mr Harts persönliche Assistentin, nicht wahr?« Sie war sich sicher, dass Sekretärin oder Vorzimmerdame gar nicht gut ankommen würde. »Miss, äh …« Sie ließ die unausgesprochene Frage in der Luft hängen.
»Roxy.«
»Roxy. Oh, der Name passt zu Ihnen.« Mit diesem überschwänglichen Kompliment erreichte sie, dass der Gesichtsausdruck der jungen Frau etwas milder wurde. »Also, Roxy«, fuhr sie im Plauderton fort, »wir versuchen gerade, einige Details eines Vorfalls in Crystal Palace am Freitagabend zu klären. Soviel ich weiß, hatte Mr Hart dort für eine Band einen Auftritt in einem Pub gebucht. Wir hatten gehofft, dass vielleicht jemand etwas gesehen hat, was uns hilft, den Zeitpunkt dieses, äh, Vorfalls genauer einzugrenzen.«
»Ich hab von dem Mord gehört«, sagte Roxy in gelangweiltem Ton, während sie an einem manikürten Fingernagel knibbelte, doch Gemma glaubte ein gewisses Interesse in ihren Augen aufblitzen zu sehen. »Caleb sagte etwas von einer Polizistin, die am Samstag ins Studio gekommen ist und nach einem Streit gefragt hat, den der Typ mit dem Gitarristen der Band hatte. Aber Caleb hatte das Pub da schon verlassen.«
»Oh, das ist aber schade.« Gemma gab sich größte Mühe, Enttäuschung zu mimen. »Wissen Sie zufällig, um wie viel Uhr das war?«
»Na ja, es muss vor zehn gewesen sein, weil Caleb nie sein AA -Meeting am Freitagabend um zehn versäumt. Die ›Prime Time der Alkoholiker‹ nennt er das. Die Wochenenden sind besonders hart, wissen Sie, wenn man es gewohnt war, mit seinen Freunden einen trinken zu gehen.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, stimmte Gemma ihr zu. »Hatte er da einen weiten Weg?«
»Sie treffen sich in Dulwich, im Gemeindezentrum. Caleb hat das organisiert.« In Roxys Stimme schwang jetzt unüberhörbar Stolz mit. Die spröde Fassade der jungen Frau konnte kaum verbergen, wie sehr sie ihren Chef anhimmelte, dachte Gemma. Sie hoffte, dass Caleb Hart das auch verdient hatte.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Roxy«, sagte sie. »Und ich rufe Mr Hart später noch an, um mir das alles bestätigen zu lassen.«
Als sie wieder auf die Straße trat, dachte sie sich, dass sie zuerst einmal das mit dem AA -Meeting überprüfen würde, ehe sie sich mit Hart in Verbindung setzte. Und dass anscheinend alle Wege nach Dulwich führten.
Da Melody und Amanda Francis noch nicht da waren, als Gemma im Wartebereich des Royal London ankam, ging sie hinunter ins Kellergeschoss, um Rashid in seinem unterirdischen Reich einen Besuch abzustatten. Sie musste jedes Mal aufs Neue über Rashids Büro staunen – das Chaos im Raum und die Graffiti-Kunst an den Wänden schienen so gar nicht mit seinem makellosen Akzent zusammenzugehen, und doch passte es irgendwie zu ihm.
»Gemma!«, rief er und sah von seinem Papierstapel auf. »Wie schön, Sie zu sehen.« Wenn er lächelte, funkelten seine Zähne blendend weiß vor dem Hintergrund seiner olivfarbenen Haut. Heute trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift Rechtsmedizin: Lebe den Traum , und sie musste unwillkürlich schmunzeln.
»Rashid, wenn man Sie so hört, könnte man meinen, Sie hätten mich zum Nachmittagstee in der Pathologie eingeladen.«
Er deutete auf ein Regal hinter seinem Schreibtisch. »Wasserkocher, Tassen, alles da. Warum nicht?«
»Nein, wirklich nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Wer weiß, was Sie da alles dringehabt haben. Otterzungen vielleicht?«
»Gemma, Sie beleidigen mich. Ich stelle sie jeden Tag in den Sterilisator für die Instrumente.«
»Jetzt bin ich endgültig sicher, dass ich lieber verzichte.« Gemma setzte sich auf den grauen Plastikstuhl – wahrscheinlich eine »Leihgabe« aus dem Wartebereich. »Was haben Sie für uns?«
Er legte seine Papiere zur Seite und wurde ernst. »Ich habe ihn schon wieder zugenäht, aber wenn Sie ihn sich ansehen möchten –?«
»Nein, es sei denn, Sie würden es als sinnvoll erachten.« Gemma war nie der Faszination des Sektionssaals erlegen.
»Nun ja, er hatte sich schon eine hübsche Fettschicht um seine Organe zugelegt, und eine beginnende Arterienverstopfung hatte er auch. Nicht gut für jemanden, der noch so jung war. Es wurde auf jeden Fall höchste Zeit, dass er mit dem Squashspielen anfing und auf seine Ernährung achtete, auch wenn das jetzt wohl eher irrelevant ist.«
»Ja.«
»Und er wurde definitiv erdrosselt, und zwar mit dem Schal, den wir um seinen Hals gefunden haben.
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