Wer Blut vergießt
aufstellten.
»Was hast du …«
»Sehen wir doch mal nach, wie wär’s?« Shaun hatte die lose Latte im Zaun gefunden, die Andy schon längst hatte reparieren wollen. Es knarrte und quietschte, als Shaun daran zog und die Nägel nachgaben. Dann brach die Latte heraus und nahm die nächste gleich mit.
Jetzt konnten sie durch die Lücke sehen. Nadines Wohnung hatte im Gegensatz zu der von Andy und seiner Mutter nur ein Schlafzimmer, und alle Räume waren auf einer Etage. Sowohl die Küche als auch das Bad hatten Fenster zum Garten. Die Vorhänge der Küchenfenster waren weit aufgezogen, und die Terrassentür stand offen, um die kühle Abendluft hereinzulassen.
Nadine stand in der Küche, hell angestrahlt wie auf einer Kinoleinwand, und sie trug immer noch das Kleid mit den mohnroten Klecksen. Sie hielt ein volles Weinglas in der Hand, und ganz langsam begann sie zu tanzen, sich zu Sinatras Stimme zu drehen und zu wiegen. Ihre Stimme, wohltönend und klar, wehte zu ihnen heraus, als sie in den Refrain einfiel.
»Leck mich«, sagte Shaun. »Wenn das nicht unsere olle Franzlehrerin ist. Kam mir doch gleich bekannt vor.« Er stieß Joe den Ellbogen in die Rippen. »Oder täuschen mich meine Augen, Kumpel?«
»Das ist sie.« Joe klang ein bisschen nervös. »Aber wir sollten jetzt echt verschwinden, Mann. Ich will keinen Ärger kr…«
»Franzlehrerin?«, zischte Andy. »Wovon redet ihr eigentlich?«
»Sie gibt an unserer Schule Französisch in der Oberstufe.« Shaun quietschte beinahe vor Aufregung. »Hat im letzten Jahr angefangen. Mrs Drake, die lustige Witwe. Wir hatten sie noch nicht, aber wir haben schon viel von ihr gehört. Sie ist scharf, Mann, oberscharf – viel zu scharf für ’ne olle Lehrerin.« Er trat durch die Lücke im Zaun in Nadines Garten, und sie folgten ihm wie an der Leine geführt.
»Nein, du lügst«, sagte Andy. Er fühlte sich ganz seltsam. Der Joint war ausgegangen, und er roch verbranntes Papier.
»Wir haben gehört, dass sie irgendwelchen Idioten in den Sommerferien Französischunterricht gibt.« Shaun legte Andy den Arm um die Schultern und drückte ihn. »Was hat sie denn mit dir so getrieben, hm, Andrew? Hat sie dich in die hohe Kunst des Französischen eingeführt?«
»Finger weg.« Andy wand sich aus seiner Umklammerung los und versetzte ihm einen Stoß. »Red nicht so über sie. Und sei gefälligst still, sie kann dich hören.«
»Ja, lass gut sein, Shaun«, stellte Joe sich überraschend hinter Andy. »Sie ist nett; sie hat mal im Speisesaal mit mir geredet.«
»Oh, du Glückspilz.« Shauns Stimme war plötzlich schneidend, als er sich zu Joe umdrehte. »Stehst wohl auf die Franzlehrerin, was, Joe?«
Die Musik hörte auf. Sie blickten sich alle zu den Fenstern um, und Andy merkte, dass er den Atem anhielt. Nadine verschwand für einen Moment aus ihrem Blickfeld, dann kam sie in die Küche zurück, und die Musik setzte wieder ein.
»Sie steht auf diesen alten Mist, was?«, sagte Shaun. »Ich frag mich, wieso.«
Andy wusste plötzlich, wieso, auch wenn er sich nicht recht erklären konnte, warum er so sicher war. Der Song erinnerte sie an Marshall, ihren toten Ehemann. Sie tanzte für ihn.
Sie gafften wie hypnotisiert, als Nadine von der Küche ins Bad ging, wo sie nur als undeutliche Silhouette hinter dem Milchglas des Badfensters zu erkennen war. Sie bückte sich, und die drei hörten das Plätschern und Gluckern im Gartenschlauch, als sie die Hähne im Bad aufdrehte. Dann tauchte sie wieder hinter der trüben Scheibe auf und hob die Arme in einer fließenden Bewegung.
»Sie hat ihr Kleid ausgezogen«, hauchte Joe.
»Na los doch.« Shaun nahm Joe die Ciderflasche ab und gab ihm einen Schubs. »Du willst die badende Schönheit doch sehen? Die Tür ist offen. Geh einfach rein und riskier ’nen Blick. Wenn sie dich sieht, kannst du einfach sagen, dass du bei Andy zu Besuch warst und nur reingegangen bist, um dir ein Glas Wasser zu holen.«
»Du bist verrückt.« Joes Stimme war schrill. »Das mach ich niemals.«
»Lasst sie in Ruhe«, sagte Andy, doch er hatte Mühe, die Worte zu formen. Seine Gliedmaßen fühlten sich schwer und träge an.
Shaun ging plötzlich auf ihn los, und selbst im Halbdunkel war das boshafte Funkeln in seinen Augen zu erkennen. »Und du hältst die Klappe. Das hier geht dich nichts an.« Er legte Joe eine Hand auf die Schulter und drückte zu, bis Joe vor Schmerz das Gesicht verzog. »Ich will sehen, wie du reingehst.«
»Shaun, bitte.
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