Wer Blut vergießt
zuging.
»Was ist los, Chefin?«, fragte Melody.
»Ich kenne sie. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich das gut finden soll.«
Doch als sie bei Detective Inspector Bell anlangten und sich vorstellten, ließ Bells Reaktion nicht darauf schließen, dass sie Gemma wiedererkannte.
»Die Spurensicherung ist schon hier, und wir erwarten jeden Moment den Rechtsmediziner«, erklärte Bell mit einem leisen Anflug des schottischen Akzents, an den Gemma sich erinnerte. »Aber ich kann mir denken, dass Sie sich gerne vorher schon einen Eindruck verschaffen würden.« Sie schüttelte den Kopf. »Eine bizarre Geschichte. Sicherlich kein Routinefall von häuslicher Gewalt am Wochenende.« Sie wies auf das Haus, das von einem niedrigen schmiedeeisernen Zaun umgeben war. »Es ist das Erdgeschoss. Die Tür war verschlossen, die Schlüssel des Opfers in der Wohnung. Keine Einbruchsspuren, weder am Vorder- noch am Hintereingang. Keiner der Nachbarn – zumindest keiner von denen, die wir befragt haben – hat irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt.«
»Das Opfer hat allein gelebt?«, fragte Melody.
»Offenbar. Sein Name ist Shaun Francis. Seine Schwester hat die Polizei alarmiert. Sie sagt, sie hätten im gleichen Büro gearbeitet. Als er heute Morgen nicht zur Arbeit erschien und auch nicht an sein Telefon ging, war sie beunruhigt. Sie dachte, er wäre vielleicht krank – eine Untertreibung, wie sich herausstellte. Sie kam hierher und schloss mit ihrem eigenen Schlüssel auf.« Bell deutete mit dem Kopf auf den Streifenwagen, der am weitesten entfernt von der Wohnung parkte. »Sie ist schwer mitgenommen. Ich habe sie erst mal zu einer der uniformierten Kolleginnen ins Auto gesetzt.«
»Ich würde lieber erst selbst einen Blick in die Wohnung werfen und dann mit ihr reden«, sagte Gemma.
»Bitte sehr.« Bell klopfte leicht an die gelbe Tür, die sogleich von einem Constable geöffnet wurde.
Sie betraten einen Hausflur, der durch das Oberlicht über der Eingangstür erhellt wurde. Eine Treppe führte hinauf zum ersten und zweiten Stock, und zur Linken stand eine Wohnungstür offen. Gemma vermutete, dass sie zu der Erdgeschosswohnung gehörte, doch sie hielt noch einmal inne, ehe sie eintrat. »Sowohl die Haustür als auch die Wohnungstür waren verschlossen?«
»Ja. Weder in den oberen Wohnungen noch im Souterrain ist jemand zu Hause.«
»Dann werden die Nachbarn eine üble Überraschung erleben, wenn sie heimkommen«, meinte Gemma. »Aber wir brauchen auf jeden Fall ihre Aussagen. Es ist möglich, dass jemand etwas gehört hat, was ihm zu dem Zeitpunkt nicht verdächtig vorkam.« Nachdem sie sich noch einmal im Hausflur umgesehen hatte, betrat sie die Wohnung, gefolgt von Melody und Bell.
Hinter ihr murmelte Melody: »Ich sehe es ja äußerst ungern, wenn diese alten georgianischen Häuser in Wohnungen aufgeteilt werden, aber hier haben sie es ja noch einigermaßen behutsam gemacht.«
»Ich versuche mich immer daran zu erinnern, dass sie damals keine sanitären Einrichtungen hatten«, bemerkte Bell. »Das macht es gleich viel erträglicher. Wie auch die Tatsache, dass die Dienstboten damals im Keller wohnten.«
Melody warf Gemma einen raschen Blick zu und flüsterte: »Bisschen dünnhäutig, hm?«, während sie in das Zimmer traten.
Gemma hatte ein wenig mehr Verständnis für Bells Einstellung, da sie selbst aus einer Familie stammte, deren Vorfahren zweifellos im Dienstbotengeschoss geschuftet und mit den Nachtgeschirren die Treppen rauf- und runtergelaufen waren.
Durch eine sehr kleine Diele mit Garderobenhaken und einem Schirmständer gelangten sie in ein Wohnzimmer, in das durch die zwei großen Fenster zur Straße hin Licht einströmte. Gemmas erster Gedanke war jedoch, dass die Einrichtung betont maskulin war. Braungraue Wände mit weiß lackierten Fuß- und Deckenleisten, ein großes, teuer aussehendes Sofa und Sessel mit passenden braungrauen Bezügen, dazu ein paar blutrote Farbakzente. Teure Unterhaltungselektronik und zeitgenössische Kunstwerke, vermutlich alles Originale. Die neueste Nummer der GQ lag lässig hingeworfen über einem Stapel Sonntagszeitungen auf dem Couchtisch, und in einer Porzellanschale auf einer Ablage in der Diele sah sie einen Schlüsselbund.
»Da war ein Innenarchitekt am Werk«, konstatierte Melody voller Überzeugung. »Und zwar kein schlechter. Auf das Geld kam es ihm jedenfalls nicht an.«
Im Wohnzimmer war sonst nichts Auffälliges zu erkennen, also ging Gemma weiter zu der
Weitere Kostenlose Bücher