Wer Boeses saet
er die Ausfahrt Avignon, Richtung Apt über die Bundesstraße 100. Auf der Höhe eines Gewerbegebietes hatte sein Navigator ihn auf die D149 weitergeleitet.
Der Wechsel in ein anderes Universum. So weit das Auge reichte, gab es unter Raureif erstarrte Felder. Ein Leben wie in Zeitlupe. Das Land war von einem weißen Lichthof überzogen wie eine mineralische Schicht. Ab und an tauchte ein Bauernhof aus diesem Nichts auf, ein strenges und graues Gebäude, als habe sich ein Riss aufgetan und gebe den Blick frei auf die Vergangenheit.
François nutzte die Stille, um schnell noch seine Tochter anzurufen. Es meldete sich der Anrufbeantworter, und er verzog enttäuscht das Gesicht. Er hinterließ eine Nachricht, in der er Charlotte von seinem hastigen Aufbruch unterrichtete, sagte ihr, wie lieb er sie habe, und legte wieder auf.
Er fuhr durch ein Weinanbaugebiet. Der Weg schlängelte sich durch die Weinberge, Tausende von Rebstöcken standen im milchigem Nebel aufgereiht. Ihre Größe und die Art und Weise ihrer Anordnung gemahnte an ein Feld voller Kreuze. An ein vergessenes Mahnmal, unter dem zahllose Leichen ruhten.
Der Polizist fuhr eine gute Viertelstunde, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Auf dem letzten Hinweisschild, das man mitten im Nirgendwo aufgestellt hatte, wurde ihm bestätigt, dass die Richtung stimmte.
Dann kam nichts mehr.
Fünf Kilometer weiter bekam die Landschaft noch einmal ein neues Gesicht. Bäume schossen aus der Erde, die weiten Ebenen wichen einem etwas chaotischeren Relief, auf dem sich Wälder erstreckten. Überall warf der Boden sich auf. Er wirkte wie eine von Monsterhand durchgeknetete Haut. Schließlich sah François vor sich auf einem Hügel Roussillon liegen.
Bei der Einfahrt in das Dorf drosselte er die Geschwindigkeit. Hier war Rot die vorherrschende Farbe. Ein mit Orange, Gelb und Hellbraun vermischtes Rot. Im Schein der eisigen Sonne sahen die Steine, Häuser und Straßen aus, als hätten sie Feuer gefangen.
Er folgte den Pfeilen. Der ausführlich gekennzeichnete Touristenweg führte ihn direkt auf einen Parkplatz. Dahinter befand sich ein Holzschild, auf dem stand, dass hier der Ockersteinbruch begann. An diesem Morgen blockierte eine Absperrung der Polizei den Zugang.
François parkte seinen 4 x 4, einen schwarzen Volkswagen Touareg mit Rauchglasscheiben, und ging auf den Wachmann zu. Er zeigte seine Karte vor, lächelte unbestimmt und folgte dem schmalen Pfad. Nach einem steilen Abstieg – Schotter und Schlaglöcher unter einem Gewölbedach aus Schirmkiefern – gelangte man in eine vollkommen kahle Talsohle.
Er blieb ein paar Sekunden stehen, überwältigt von dieser einzigartigen Landschaft. Er befand sich in einem natürlichen Talkessel, aus dem gerundete Felsen aufstiegen, von denen hier und da Steinpfeile aufragten. »Aufgelassener Steinbruch« stand in dem Touristenführer zu lesen, den er in der Autobahnraststätte gekauft hatte. Ocker war die vorherrschende Farbe, und so erinnerte einen der Anblick an die Wüstenlandschaften Colorados, bloß in Miniaturausführung.
Der Kommissar ging weiter. Seine Schuhsohlen waren jetzt so purpurrot wie der Staub. Hundert Meter weiter sah er zwei Leute miteinander sprechen. Rote Armbinde, lässige Körperhaltung: Polizeibeamten.
Er ging zu ihnen hin und zückte erneut seine Karte.
»Kommissar François Marchand. Ich komme aus Paris.«
»Aus Paris?«
Der Mann, der ihn gerade so unwirsch angesprochen hatte, war ein einziges Muskelpaket. Er trug einen Bürstenschnitt, schwarze Lederjacke, Sportschuhe und hatte den misstrauischen Blick eines Menschen, der fürchtet, man könnte ihm etwas wegessen.
Noch ehe François reagieren konnte, trat die Frau vor und sagte:
»Leutnant Julia Drouot. Kripo Avignon. Man hat mich schon unterrichtet, dass Sie kommen.«
Keine dreißig Jahre alt, direkter Blick, fester Händedruck. Sie hatte kurzes, hellbraunes Haar, ein scharfkantiges Gesicht und funkensprühende Augen. Der orangefarbene Anorak – hochgebirgstauglich – ließ eine durchtrainierte Figur erahnen, den Körper einer Sportlerin, die viel Zeit an der frischen Luft verbringt.
»Freut mich sehr«, antwortete der Kommissar.
Die junge Frau nickte ihrem Kollegen kurz zu. Während er ihnen den Rücken zuwandte, trat sie auf François zu.
»Sie sind vom OCRVP ?«
»Richtig.«
»Experte in Verhaltenswissenschaft, nach dem, was die Gerüchteküche so verlauten lässt.«
»Auch richtig.«
»Dann dürfte Ihnen ja nicht entgangen
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