Wer Boeses saet
stand Julia hinter ihm.
69
Es war kalt und dunkel im Sumpf.
Der Mond war aufgegangen und warf sein Licht auf den Wald. Kalkweiße Nebelschwaden waberten über dem Bootsanleger und hüllten zwei in Schweigen versunkene Gestalten ein.
François starrte aufs Wasser. Er schien sich in einem Albtraum verloren zu haben, dessen Klauen sich ihm ins Fleisch bohrten. Etwas weiter weg stand Julia und wartete. Auf ein Zeichen, eine Geste, egal was, etwas, woran sie erkennen konnte, dass er noch da war.
Schließlich ertönte seine Stimme im Morgengrauen.
»Danke.«
»Wofür?«
»Dass du sie nicht getötet hast.«
Julia antwortete nicht. Sie hatte auf die Schulter gezielt, geschossen und dabei gebetet, dass alles gut gehen möge. Der Rest war reines Glück gewesen. Ein paar Zentimeter tiefer, und Charlotte wäre nicht mehr am Leben.
Wieder ließ François sich vernehmen, ein Murmeln, das gegen das Brausen des Windes kaum ankam.
»Bist du nicht nach Avignon zurückgefahren?«
»Konnte ich nicht …«
»Wie hast du es erfahren?«
»Über deinen Freund, Hallaoui. Er hat mir die Information weitergegeben.«
»Welche Information?«
»Über die Gesprächsverbindungen der Prepaidkarten. Ein paar Wörter hatten sie entschlüsseln können. Zum Beispiel ›Sologne‹ und ›Charlotte‹ …«
François drehte sich langsam um. Er verschränkte die Arme vor der Brust, als wolle er sich gegen eine Kälte schützen, die von innen kam.
»Und das hat genügt?«
»Du hattest mir von dem Haus bei Lamotte-Beuvron erzählt. Ich habe meine Schlüsse daraus gezogen.«
Ein Nicken, wenn auch ein sehr schwaches. Julia hatte das Gefühl, einen Automaten vor sich zu haben, dessen Batterien sich langsam leerten.
»Wer hat dir den Weg in die schwarzen Sümpfe beschrieben?«
»Ich habe bei deinen Eltern angerufen.«
»Du hast sie …«
»Ich hatte deine Mutter am Telefon. Mach dir keine Sorgen, sie weiß von nichts. Ich habe ihr nur gesagt, dass man dich sucht und dass dein Handy nicht reagiert.«
»Hat sie dir geglaubt?«
»Nicht nur das. Sie hat mir sogar vorgeschlagen hierherzufahren.«
François schloss die Augen. Er musste an all das denken, was jetzt auf ihn zukam. Er musste seiner Familie die Wahrheit sagen. Der ganze Schmerz, all die vielen Opfer …
Er verließ den Bootsteg. Julia beobachtete ihn, diskret und aufmerksam. Nach ein paar Metern blieb er stehen und starrte auf das Gebäude. Ein altes Gemäuer, massiv, beunruhigend, im Schatten verborgen und unheilschwanger.
Über der schwarzen Linie des Dachs wurde der Himmel von roten und blauen Aureolen erleuchtet. Die Blaulichter der Armada, die gerade eingetroffen war. Polizisten, Rettungssanitäter, Spurensicherung. François hatte den Krankenwagen davonfahren sehen, der Charlotte mitnahm, ihrem weiteren Schicksal entgegen. Er würde ihr schon bald nachfahren, sobald Hénon hier alles Weitere übernehmen konnte.
Julia wartete ein wenig, bevor sie sich entschloss, zu ihm zu gehen. Ein Anfall von Zärtlichkeit, das Bedürfnis, ihn in die Arme zu nehmen, ihn zu beruhigen, ihm zu sagen, dass sie für ihn da war. Sie ließ ihre Hand in die seine gleiten und murmelte:
»Sie wird eine Behandlung bekommen. Sie ist noch jung. Vielleicht gibt es für sie noch eine Chance, da wieder herauszukommen.«
»Die Schulter wird schnell heilen. Aber was den Rest angeht …«
»Sag das nicht. Du hast für sie gekämpft. Du wirst weitermachen.«
»Ein Teil dessen, was sie einmal war, ist mit ihrer Mutter gestorben. Und den anderen Teil habe ich getötet.«
»Das stimmt nicht. Du hast keine Schuld daran.«
François seufzte. Den Schmerz und die Schuldgefühle schien er weit hinter sich gelassen zu haben. Er fühlte sich leer, in seinem Inneren reihte sich eine Ruine an die andere.
»Vielleicht … Trotzdem ist es jetzt so, wie es ist. Sie lebt schon lange in der Hölle, und von dieser Art von Reise kehrt man nicht zurück.«
»Dir ist das gelungen.«
»Den Eindruck habe ich nicht.«
»Ich schon. Du bist dir dessen nur noch nicht bewusst, das ist alles.«
Er lächelte sie traurig an. Dann zog er sehr sanft seine Hand zurück.
»Ich muss gehen.«
»Willst du, dass …«
»Nein. Ich muss allein sein. Ich ruf dich an.«
Sie waren wie durch eine gläserne Wand voneinander getrennt. François’ Schmerz nahm allen Platz ein. Sie sah ihn fortgehen und kämpfte mit den Tränen, ihrer Ohnmacht hilflos ausgeliefert.
Sie ging ein paar Schritte. Sie musste sich bewegen, durch Bewegung den
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