Wer bricht das Schweigen (German Edition)
sich aufs Land versetzen ließ, als ihre Beziehung mit Rainer in die Brüche ging, hatte ihr noch nie leid getan. Es war eine besondere Herausforderung für sie, Schüler unterschiedlichen Alters zur gleichen Zeit im selben Raum zu unterrichten. In der Stadt hatte sie ausschließlich Erstklässler gehabt, aber hier lohnte es sich einfach nicht, die Kinder aufzuteilen, obwohl sie auch aus den umliegenden Gemeinden nach Diebach zum Unterricht kamen. Während ihre Kollegin dafür sorgte, dass sie den Hauptschulabschluss schafften, betreute Janina die Mädchen und Jungen während der ersten vier Grundschuljahre. Ihre Schüler liebten sie. Das bewiesen vor allem die vielen Blumensträuße, die sie ihr immer mitbrachten. Ihre Zuneigung wärmte Janinas einsames Herz. Die bittere Enttäuschung, die sie mit Rainer erleben musste, schmerzte noch immer. Janina hatte sich geschworen, dass es nie wieder einen Mann in ihrem Leben geben sollte, der ihr so wehtun durfte.
Gabriele, ihre Große, die schon bald auf ein Gymnasium in der Kreisstadt überwechseln wollte, kam zu ihr und verkündete: „Die meisten haben sich dafür entschieden, dass wir draußen Völkerball spielen, Frau Meisner.“
Die junge Lehrerin zögerte. „Der Boden dürfte noch feucht sein“, wandte sie ein.
„ Aber die Sonne scheint doch so schön, Frau Meisner“, versuchte sie Petra, eine Erstklässlerin, zu überreden. „Außerdem sagt meine Mutti immer, dass wir so oft wie möglich an die frische Luft gehen sollen.“
„ Dann wollen wir natürlich auf deine Mutti hören und auf den Sportplatz hinausgehen“, entschied Janina lachend. „Ihr müsst mir aber versprechen, dass ihr nicht so wild herumtobt. Ich möchte nicht, dass jemand auf dem feuchten Rasen ausrutscht.“
Janina saß am Spielfeldrand und schaute den Kindern zu. Sie fühlte sich ausnahmsweise nicht so besonders, darum spielte sie nicht mit. Bald begannen die Sommerferien. Ihre Kollegin wollte mit ihrem Freund nach Griechenland fliegen, um dort zu wandern. Janina dachte mit Schaudern daran, dass sie dazu verurteilt war, diese sechs Wochen Ferien alleine zu verbringen. Natürlich konnte auch sie einen Urlaub buchen, aber sie stellte es sich nicht besonders lustig vor, alleine am Pool zu liegen und
darauf zu warten, dass jemand ein paar Worte mit ihr wechselte. Sie blieb gleich hier in Diebach, da hatte sich bestimmt längst herumgesprochen, dass die neue Lehrerin nicht gerade sehr kontaktfreudig war. Aber das wird sich ändern, nahm sich Janina vor. Ihr müsst mir nur noch eine Weile Zeit lassen.
Die junge Lehrerin fuhr erschrocken auf. Dieser spitze Aufschrei eben konnte nur von einem der Kinder stammen. Es musste sich weh getan haben.
„ Was ist passiert?“, rief sie und lief auf die kleine Gruppe zu, die auf dem Spielfeld eng beisammen stand. „Ist jemand verletzt?“
Gabriele wandte sich zu ihr um. „Ich glaube, Regina hat sich das Bein gebrochen, Frau Meisner. Sie wollte den Ball fangen, ist hochgesprungen, und als sie dann wieder auf den Boden aufkam, ist sie mit dem Fuß einfach umgeknickt.“
Janina beugte sich angstvoll über das kleine Mädchen, das leise stöhnend auf dem Boden lag. „Hast du große Schmerzen, Regina?“, fragte sie. „Kannst du mir genau sagen, wo es dir überall weh tut?“
„ An meinem Fuß, hier.“ Sie fasste an ihren Knöchel. „Er ist auf einmal ganz dick.“
„ Dein Knöchel schwillt an, Regina“, stellte die Lehrerin betroffen fest. „Ich werde dich sofort zum Arzt bringen. Die anderen Kinder können für heute nach Hause gehen.“
„ Ich brauche keinen Doktor, Frau Meisner“, sagte Regina erschrocken. „Eigentlich tut es schon gar nicht mehr so weh. Wenn Sie mir aufhelfen ...“
„ Du lässt dich jetzt von mir zum Auto tragen, Regina“, sagte die Lehrerin streng. „Ich muss leider darauf bestehen, dass du keinen Schritt mehr gehst, ehe der Arzt dein Bein gesehen hat.“
Sie hob das Mädchen hoch und brachte es zu ihrem Wagen. „Hast du so Angst vor dem Doktor, Regina?“, fragte sie mitleidig, als sie in das kreidebleiche Gesicht des Kindes schaute. „Ich bin sicher, er macht dir nur einen dicken Verband um deinen Knöchel und schickt dich wieder nach Hause. Einige Tage wirst du dann allerdings nicht mehr zur Schule kommen können.“
„ Ich will aber nicht daheim bleiben, Frau Meisner“, begehrte die Kleine plötzlich auf, als sie sich bereits auf dem Weg zum Arzt befanden.
Weitere Kostenlose Bücher