Wer bricht das Schweigen (German Edition)
„Meine Mutti kann mich ja mit dem Auto in die Schule bringen, damit ich nicht laufen muss. Wenn ich immer ruhig sitzen bleibe, kann mein Bein doch auch gesund werden.“
„ Das lassen wir am besten Doktor Baumann entscheiden, Regina. Kennst du ihn eigentlich schon?“ Janina stellte den Motor ab. Sie kam zum ersten Mal hierher.
„ Nein. Aber meine Mutti kennt ihn“, fiel dem Kind ein. „Doktor Baumann hat ihr Medizin gegeben, weil wir einmal alle die Grippe hatten.“
„ Dann werden wir uns den Mann eben einmal anschauen“, meinte Janina scherzend und hob das Kind aus dem Auto, um es ins Haus zu tragen. Eine ältere Frau, die sie schon durch eines der Fenster beobachtet haben musste, machte ihr die Haustür auf und zeigte ihr den Weg ins Wartezimmer des Arztes. Das muss Frau Baumann sein, sagte sich Janina und bedankte sich ausgesprochen freundlich bei ihr.
Sie mussten nicht lange warten. Verblüfft schaute Janina auf den Mann im weißen Kittel. Sein offenes Lächeln ließ ihn noch sehr jung erscheinen. Außerdem besaß er eine angenehme Stimme und warme braune Augen. Sie bemerkte einige Silberfäden in seinen dunklen Schläfen.
Janina riss sich zusammen. „Regina ist in der Turnstunde mit dem Bein umgeknickt, Herr Doktor“, begann sie nervös. „Ich möchte Sie bitten, dass Sie sich den Knöchel ansehen. Er scheint bereits dick zu werden.“
Der Arzt tastete das Bein vorsichtig ab. „Dein Knöchel ist mit ziemlicher Sicherheit nur verstaucht, Regina. Ich werde dir einen schönen Verband darüber machen, dann kommt er bald wieder in Ordnung.“ Er hob den Blick. Dabei fiel ihm auf, wie blass die junge Frau war. Lächelnd wandte er sich wieder seiner kleinen Patientin zu, ehe er fortfuhr: „Deiner Mami solltest du sagen, dass sie sich keinen Kummer machen muss. In ein paar Tagen springst du schon wieder quietschvergnügt herum.“
„ Das ist doch nicht meine Mami“, protestierte Regina kichernd. „Frau Meisner hat gar keine Kinder. Sie ist nur meine Lehrerin.“
Doktor Baumann war der kleine Irrtum nicht einmal peinlich. Er schaute Janina so strahlend an, dass sie verlegen zur Seite schauen musste. Dabei fragte sie sich verwirrt, wie dieser Mann es fertigbrachte, sie derart zu beeindrucken. Er war doch gar nicht ihr Typ. Jedenfalls war er das genaue Gegenteil von Rainer.
Der Arzt bestand darauf, seine kleine Patientin selbst zum Auto zu tragen. „Ich besuche dich morgen nach der Sprechstunde, Regina“, versprach er. „Deine Mutti kann mich aber auch jederzeit anrufen, falls noch etwas sein sollte, das kannst du ihr ausrichten.“
„ Das mache ich“, versprach das Mädchen. „Sie können mich aber erst am Nachmittag daheim besuchen, weil ich sonst noch in der Schule bin.“
„Mit einem verstauchten Knöchel kann man nicht zur Schule gehen, junge Dame“, meinte er schmunzelnd. „Deine Lehrerin weiß ja, dass du jetzt nicht laufen kannst.“
„ Ich will aber zur Schule“, protestierte das Kind. „Meine Mutti kann mich zu meinem Platz tragen. Dort bleibe ich sitzen, bis sie mich wieder abholt. Das geht doch, oder?“, fragte sie kämpferisch.
Das Kind hatte eigentlich recht. Sein Blick streifte die junge Lehrerin, die bereits am Steuer saß und nur noch darauf zu warten schien, dass sie losfahren konnte. Ob sie ihn ablehnte? Besonders sympathisch schien er ihr nicht zu sein. Eine andere Erklärung hatte er nicht dafür, dass sie stets an ihm vorbeizuschauen schien. Eigentlich schade, stellte er betrübt fest. Es hatte ihn wie ein Blitz getroffen, als er sie gesehen hatte. Noch immer konnte er sich nicht satt sehen an ihrem zarten Profil, den langen blonden Haaren, die ihn an die Farbe von reifem Weizen erinnerten. Du hast eben Feuer gefangen, mein Junge, sagte er sich, aber es wird dir nichts nützen, weil sie dich nicht mag. Wahrscheinlich ist sie ja auch schon längst vergeben, obwohl sie keinen Ring trägt, wie er natürlich sofort bemerkt hatte. Eigentlich wusste er gar nichts von ihr, nur dass er sich einiges einfallen lassen wollte, um sie wiederzusehen. Er musste einfach mehr über sie wissen.
* * *
Durch die Scheibe des Schaufensters konnte die Lehrerin beobachten, wie die beiden Kundinnen sich angeregt mit der Krämersfrau unterhielten. Als Janina dann den Laden betrat, musste sie verblüfft feststellen, dass die Frauen sofort verstummten.
„ Was darf ich Ihnen denn geben, Frau Meisner?“, erkundigte sich die Krämersfrau
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