Wer den Himmel berührt
Chris. Danke. Aber weißt du, was? Mit mir stimmt etwas nicht.«
Er legte den Kopf auf die Seite und wartete.
»Ich empfinde nichts. Ich habe nicht um die beiden getrauert. Ich habe nicht gelitten. Ich bin nicht niedergeschlagen, und mir macht nur Sorgen, wie es mit den Fliegenden Ärzten weitergehen soll. Was bin ich bloß für ein Mensch?«
»Oh«, sagte er, und seine Stimme klang erleichtert. »Das ist Verweigerung, Cassie. Das ist vollkommen normal. Dein Verstand hat die Bruchlandung und die Todesfälle nicht akzeptiert. Wenn du es emotional akzeptierst, machst du dich wahrscheinlich selbst kaputt. Es ist nur gut, daß du im Moment nicht arbeiten kannst, verstehst du, daß es kein Flugzeug und keinen Piloten gibt. Du wirst Zeit brauchen, um darüber hinwegzukommen. Macht dich die Vorstellung nervös, wieder zu fliegen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht im geringsten. Ich bin unruhig wegen all dieser Menschen, die meine Hilfe brauchen, und ich bin nicht da, um diese Hilfe zu leisten. Ich will in ein Flugzeug steigen und rausfliegen.«
»Dir ist nicht klar, was du emotional durchmachst. Wenn du all das auf einer anderen Ebene als der rein zerebralen begreifen kannst, kann ich mir vorstellen, daß du in einen Abgrund stürzt, so wie ich dich kenne.«
Sie ging auf ihn zu und nahm seine Hand. »Kennst du mich denn, Chris?«
Seine Hand schlang sich um ihre und hielt sie fest. »Ich weiß es nicht, Cassie. Ich weiß nicht, wie gut ich jemals einen anderen Menschen gekannt habe, mich selbst inbegriffen. Ich möchte dich kennenlernen. Ich wünsche mir schon lange, dich besser kennenzulernen.«
Sie starrten einander an.
Sie streckte sich und küßte ihn auf die Wange. »Laß mich schnell etwas Ordentliches anziehen und mein Haar kämmen, ja? Ich war nicht auf Herrenbesuch eingerichtet.«
»Du hättest es wissen müssen.« Ein angedeutetes Lächeln lag auf seinem Gesicht.
»Mag sein. Aber ich war nicht auf diese Veränderung in dir vorbereitet.«
»Ich habe mich nicht verändert. Die Situation hat sich verändert.«
»Das kann sein.« Sie lächelte ihn an. »Aber jetzt laß mich versuchen, mich etwas reizvoller zurechtzumachen.«
»Das ist völlig unmöglich.« Er setzte sich auf den zu prall gepolsterten Sessel. »Aber ich werde geduldig sein. Schließlich warte ich schon seit – wie lange ist es jetzt, sind es zwei Jahre? Kämm dir das Haar, wenn es sein muß, obwohl es gerade ungekämmt sehr attraktiv und ausschweifend wirkt.« Ihr gefiel, wie er sie anlächelte. Zum ersten Mal entdeckte sie an ihm einen Sinn für Humor.
Sie fuhr sich mit einem Kamm durchs Haar, putzte sich die Zähne und zog sich eine bequeme Hose und eine beige Seidenbluse über. Doch sie zog keine Schuhe an. Er würde sie barfuß akzeptieren müssen oder es bleibenlassen.
»So, ist das nicht gleich viel besser?« fragte sie. Sie flirtete mit ihm, und sie wußte es. Sie hatte nie sexuelle Spielchen betrieben. Für sie war es immer ernst gewesen. Jetzt würde sie das tun, was die Mädchen um sie herum jahrelang getan hatten. Chris sah ihr in die Augen, ehe er den Blick niederschlug und seinen Drink ansah, ihn austrank und aufstand. Er trat auf die Veranda, und Cassie sah ihn in das dichter werdende Dunkel schauen.
Als er ins Zimmer zurückkam, blieb er im Schatten stehen. Dann trat er ins Licht, setzte seine Brille ab und sah sie eindringlich an. »Du machst mir angst, Cassie.«
Wie köstlich. Sie machte ihm angst. »Warum, Chris?«
»Ich bin fast fünfundvierzig Jahre alt, und ich habe bisher nie gewußt, was es heißt, verliebt zu sein.«
35
A lso, da soll mich doch gleich der Teufel holen, dachte Cassie. Ausgerechnet er, von all den Leuten in Augusta Springs … auf der ganzen Welt, wenn sie es sich genauer überlegte. Selbst nach Fionas Heimkehr kam Chris zwei- oder dreimal in der Woche zum Abendessen und brachte eine Flasche Wein oder einen Blumenstrauß mit.
Beide Frauen hingen in der Luft. Fionas Stelle war längst mit einer jungen Frau aus Charters Towers besetzt worden. Und John Flynn sagte zu Cassie: »Ich glaube, wir können ein altes Flugzeug bekommen, aber wir werden es für unsere speziellen Zwecke umbauen lassen müssen. Andererseits kann ich im ganzen Land keinen Piloten finden, der nicht im Kriegseinsatz oder von einer Fluggesellschaft gebraucht wird.«
Cassie hielt weiterhin ihre drei Funksprechstunden täglich ab, konnte aber weder zu Routinesprechstunden oder ambulanten Behandlungen noch zu Notfällen
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