Wer den Himmel berührt
nachdem ich ihr die Tasche abgenommen hatte, ist sie uns auf die Veranda gefolgt. Wir haben dagesessen, als tränken wir Tee in einem viktorianischen Roman. Sie hatte eine so zarte und sanfte Stimme, daß man sich anstrengen mußte, um sie zu verstehen, und sie hat sich als Lucy Martin vorgestellt, gerade erst aus England eingetroffen.
Eine ganz ungeheuerliche Geschichte, Cassie. Sie hat gesagt, sie hätte die Landkarten studiert und nachgesehen, wo die Dörfer der Aborigines liegen, und drei von diesen Ansiedlungen befinden sich auf dem nördlichen Teil unseres Landes. Sie sind schon immer dort gewesen, etwa zwanzig Meilen voneinander entfernt, eine Art Dreieck. Sie wollte von uns die Erlaubnis haben, dort ein Zelt aufzubauen, weil sie dort leben will. Ihr Ziel ist es, den Aborigines etwas beizubringen, sie weiterzubilden. Kannst du dir das vorstellen?«
»Das versucht Fiona doch schon seit Jahren«, sagte Cassie.
Steven stimmte ihr zu. »Sie hatte Gott weiß wo gehört, daß Fiona sich dafür interessiert, und das war einer ihrer Gründe dafür, sich ausgerechnet unser Land auszuwählen. Sie hat gesagt, während ihres Archäologiestudiums an der Universität sei ihr Interesse an den Aborigines erwacht, die eine große Faszination auf sie ausübten. Sie hätte in all den Jahren gearbeitet und Geld gespart und unterrichtet, damit sie herkommen, unter den Eingeborenen – so nennt sie sie – leben und ihre Bräuche studieren könnte. Ist das zu fassen? Sie arbeitet schon auf dieses Ziel hin, hat sie gesagt, seit sie neunzehn Jahre alt war, doch sie hätte einen Umweg über die Ehe gemacht. Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben.«
»Wie ist sie bei euch angelangt?«
»Sie hat gesagt, sie hätte den Bus genommen. Du weißt doch, er fährt jetzt etwa sieben bis acht Meilen vom Haus entfernt auf der Hauptstraße vorbei. Von dort aus ist sie gelaufen.«
Die Stewardeß brachte die Getränke. »Und? Was hat Fiona dazu gesagt?«
»Du kennst doch Fi. Sie ist einfach aufgestanden und hat die Frau umarmt. Ich habe gesagt, Fiona sollte sie im Landrover hinfahren, aber Fiona hat beschlossen, es sei vernünftiger, sie im Hubschrauber hinzubringen. Natürlich habe ich mich immer noch nicht wirklich mit diesen Wundern der Neuzeit angefreundet. Und ich mußte ihr praktische Fragen stellen wie die, woher sie ihre Vorräte beziehen will. Wie sie sich das mit dem Essen vorstellt. Sie hat gesagt, sie würde essen wie die ›Eingeborenen‹, dann, wenn sie es tun, und das, was sie zu sich nehmen, und ihr Zelt hätte sie in der Nähe der Bushaltestelle hinter einem Baum liegenlassen, weil es zu schwer und zu unhandlich sei, um es den weiten Weg zum Haus zu tragen.«
»Was ist mit ihrer Kleidung? Hat sie dafür eine Erklärung gehabt?«
Er lachte. »Fi hat sie danach gefragt. Sie hat gesagt: ›Ich habe beschlossen, wenn ich schon ein neues Leben beginne, dann sollte es mir möglich sein, mich so zu kleiden, wie ich will, und ich habe schon immer eine Affinität zum viktorianischen Zeitalter verspürt. Daher habe ich mir von einer Schneiderin zwei Kostüme anfertigen lassen, und ich fühle mich sehr wohl darin, danke für die Nachfrage, obwohl es ein wenig warm ist.‹ Fiona hat natürlich in Shorts auf der Veranda gesessen.«
Cassie lachte. »Was glaubst du wohl, was die Aborigines in ihr sehen werden?«
Steven schob die Lippen vor und verdrehte die Augen. »Wer weiß? Sie wollte unsere Hilfe nicht – sie wollte ihr neues Leben so beginnen, wie sie es sich erträumt hat. Wir haben sie allerdings dazu überreden können, zwei Tage bei uns zu bleiben, und Fiona hat ihr ein paar Bücher gegeben, ehe sie sie zu unserem nordwestlichen Quadranten gefahren hat, der, abgesehen von den Aborigines, unbewohnt ist. Etwa alle zwei bis drei Jahre lassen wir dort oben Rinder weiden, aber nicht öfter.«
»War sie dir sympathisch?«
»Sie ist exzentrisch, aber ist es nicht gerade das, was unseren Teil der Welt so interessant macht? Wie viele nette normale, angepaßte Menschen kennst du hier in der Gegend?«
Cassie nickte. »Das ist wahr. Hier ist so ziemlich jeder leicht daneben; andernfalls wären sie in den Städten oder sonst irgendwo, wo es sich leichter leben läßt, soviel steht fest. John Flynn hat einmal zu mir gesagt, er glaubte, im Busch wimmelte es von zwei Sorten von Menschen, denen, die vor etwas davonlaufen, und denen, die auf der Suche nach etwas sind.«
»Das kann gut sein.« Steven lehnte sich auf seinem Sitz zurück.
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