Wer den Himmel berührt
was sie tun sollten und was nicht. Es ist eine einfache Gesellschaft, die zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann, aber sie geraten in Verwirrung, wenn wir darauf beharren, daß sie sich nach unseren Gesetzen und Bräuchen richten.«
Sam sagte etwas, was Cassie nicht hören konnte, und dann fuhr der Chef fort. »Ich bin der Gerichtsdiener und der Protokollführer, der Hüter des Rechts. Wenn es scheint, als sollte ein Problem an Ort und Stelle rechtskräftig gelöst werden, dann berufe ich eine gerichtliche Sitzung ein, und ich bin der Richter und die Geschworenen zugleich. Das ist den Leuten lieber, als rumzuhängen und zu warten, bis sich hier irgend etwas tut und eine Entscheidung von außen getroffen wird.«
Cassie trat auf die Veranda und schaute auf die Landschaft hinaus; der Ausblick war überwältigend. »Wird Ihnen das nicht zuviel?«
»Nee.« Er grinste, und seine breiten Schultern wirkten, als könnten sie die Last der Welt tragen. »Ich bin gern Häuptling. Mir gefällt es hier. Je heißer es wird, desto bessere Arbeit leiste ich. Es gibt nicht einen einzigen Menschen hier draußen in der ganzen Gegend, den ich nicht kenne, kein einziges Gehöft, auf dem ich nicht willkommen wäre. Und seit die Schwestern einen Radioapparat haben, können wir abends rumsitzen und rausfinden, was sich weltweit abspielt. Wenn jemand draußen in meinem Zuständigkeitsbereich über Funk mit Ihnen in Augusta Springs redet, kann ich mithören, und wenn ich glaube, daß ich weiterhelfen kann, reite ich eben raus.«
»Sie erledigen alles per Pferd?«
Der Chef schüttelte den Kopf, und das blonde Haar fiel ihm in die Stirn. Geistesabwesend griff er in seine Hemdtasche, zog eine Zahnbürste heraus und begann, sich die Zähne zu putzen. »Wenn Straßen hinführen, nehme ich einen kleinen Lastwagen, aber an den meisten Orten gibt es keine Straßen, die benutzbar sind. Wenn es eine Straße gibt, ist sie nicht immer brauchbar. In der Regenzeit können die Wege ausgehöhlt oder weggeschwemmt werden. Während der Dürren wird Sand darüber geweht, obwohl das mit all den Bäumen hier oben im Norden kein so großes Problem wie weiter unten im Süden ist.«
»Fühlen Sie sich nicht manchmal einsam?« Es kostete Cassie große Mühe, nicht in lautes Gelächter über seine Nummer mit der Zahnbürste auszubrechen.
Der Chef ließ die Zahnbürste wieder in seine Tasche fallen. »Das fragen mich all meine Verwandten in England immer wieder. In den fünf Jahren, seit ich hier bin, habe ich nicht eine einzige einsame Minute verbracht. Ich schaffe es nie, alles zu erledigen, was ich mir vornehme, an keinem einzigen Tag.«
»Wir auch nicht«, sagte Marianne, die ein Teetablett mit vier Tassen brachte.
In dem Moment hörten sie jemanden die Treppe heraufkommen, und durch die offene Tür stürmte eine Frau unbestimmbaren Alters; ihr Gesicht war zerfurcht und ledrig von den Jahren, die sie im Freien verbracht hatte.
»Das ist Hermione«, sagte Marianne. »Sie ist die Postamtsvorsteherin – ihr Mann betreibt das Geschäft und die Kneipe.«
Cassie konnte sich nicht vorstellen, daß einer der beiden über Überarbeitung klagen könnte.
Hermione trug ein unförmiges Kleid, eine weiße und eine gelbe Socke und dreckige Schuhe, von denen einem die Spitze fehlte. Auf dem Kopf trug sie einen zerbeulten alten Strohhut mit einer breiten Krempe. Sie hielt einen Packen Briefe in der Hand. »Ich dachte, die könnten Sie mitnehmen, statt daß sie hier rumliegen und auf Mr. Miner warten, der wahrscheinlich doch frühestens in zehn Tagen kommt.«
Sam nahm ihr die Briefe ab.
Marianne ging, um eine weitere Tasse zu holen.
Cassie fragte sich laut, woher die Briefe wohl kommen mochten, woher die Patienten kamen und woher die Leute kamen. Mehr als ein Dutzend Menschen konnte es in dem Ort nicht geben.
»Ein Teil der Post geht an das Erziehungsministerium oder kommt von ihm«, sagte Hermione, deren Stimme klang, als hätte sie ihr Leben lang geraucht. »So wird den Kindern hier in dieser Gegend Wissen vermittelt. Per Post.«
»Wir liegen an der Route der Viehtreiber«, fügte der Chef hinzu. »Das Krankenhaus ist ein Treffpunkt. Jeder Mann im Umkreis von hundert Meilen findet irgendeinen Grund, um hierherzukommen, und das nur, weil sie alle Brigid und Marianne sehen wollen.« Er lachte, als Marianne errötete. »Sie setzen jedem eine Mahlzeit vor, der hier vorbeischaut.«
»Wir dienen auch als Bücherei«, sagte Marianne. »Jeder, der ein Buch
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