Wer den Himmel berührt
Hand auf ihrer Schulter. Als sie sich umdrehte und aufblickte, sah sie Chris Adams.
»Tut mir leid, daß ich Sie stören muß«, sagte er, doch aus seiner Stimme war keine Spur von Bedauern herauszuhören. »Ich versuche schon seit über einer Stunde, Sie ausfindig zu machen.«
Cassie schaute zu ihm auf und hob das Champagnerglas an ihre Lippen. Chris’ Hand senkte sich hinab und schloß sich um ihr Glas. »Nein«, sagte er. »Kein Champagner. Ich brauche Sie.«
Er braucht mich?
»Ich muß eine Hand amputieren«, sagte er. »Irgendein Verrückter hat versucht, mit Dynamit zu sprengen, und er ist nicht schnell genug weggelaufen und hat sich die Hand abgesprengt. Alles bis auf die Knochen. Ich muß amputieren, und zwar gleich.«
Cassie stellte ihr Glas auf den Tisch. »Weshalb brauchen Sie mich? Bestimmt kann Dr. Edwards …«
»Dr. Edwards«, sagte Chris, und seine Stimme war so starr wie eine schnurgerade Linie, »ist arbeitsunfähig.«
Niemand sagte ein Wort.
»Er ist sturzbetrunken, und ich brauche augenblicklich einen Anästhesisten.«
Cassie stand auf. »Selbstverständlich.«
Sie wandte sich an Horrie und Betty. »Es tut mir leid. Vielleicht seid ihr ja noch da, wenn ich fertig bin. Ich werde vorbeischauen und nachsehen. Wenn nicht, können wir ja morgen …«
Chris machte auf dem Absatz kehrt und lief vor ihr her. Er hielt ihr noch nicht einmal die Pendeltür auf oder öffnete ihr den Wagenschlag. Er wartete, drehte den Zündschlüssel um und ließ den Wagen an, als sie die Beifahrertür öffnete und einstieg.
Auf der gesamten Fahrt zum Krankenhaus sagte er kein einziges Wort.
12
W orin besteht das Problem, Mrs. Anderson?« Cassie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, Ferndiagnosen zu stellen, ohne einen Patienten zu sehen.
»Er hat so einen Druck auf der Brust. Er sagt, es ist ein Gefühl, als stünde jemand darauf.«
Cassie drückte eine Taste. Der große Vorteil, dachte sie, war der, daß keiner den anderen unterbrechen konnte. Sie mußten synchron geschaltet sein. »Verlagert sich der Schmerz?«
»Einen Moment.« Cassie konnte hören, daß die Frau etwas rief. Einen Moment später hörte sie die Stimme eines Mannes über Funk. »Ja, er verlagert sich. Ich spüre, wie er in meinen Nacken und in meine Schultern raufzieht und von dort aus runter, in den linken Arm.«
Angina pectoris.
Seine Stimme fuhr fort. »Ich kann ihn in meinem Ellbogen spüren, aber mir fehlt nichts am Ellbogen. Ich bin nirgends damit angestoßen und auch sonst nichts.«
»Wann kriegen Sie diese Schmerzen?«
»Tja«, ertönte die Stimme knisternd über Funk, »am stärksten habe ich sie am frühen Morgen, wenn ich rumlaufe und Dinge tue. Manchmal tut es so weh, daß ich alles stehen- und liegenlassen muß, was ich gerade tue, und dann muß ich mich hinsetzen, bis der Schmerz vergeht.«
Wieviel sollte sie ihm sagen? »Das sind typische Anzeichen für Herzschmerzen oder Angina pectoris. Sie sollten am besten jede Anstrengung unterlassen, bis wir genauer im Griff haben, was Ihnen wirklich fehlt.«
»Was kann ich dagegen tun?«
»Verhalten Sie sich ruhig. Strengen Sie sich nicht an. Sorgen Sie dafür, daß jemand anderes Ihre Aufgaben übernimmt. Wir kommen morgen zu Ihnen raus und machen ein EKG und bringen Nitroglyzerintabletten mit.«
»Es gibt niemanden, der mir meine Arbeiten abnehmen würde.«
»Dafür sollten Sie aber sorgen. Hört Ihre Frau mit?«
Eine Frauenstimme ertönte hinter ihm. »Hier bin ich.«
»Okay, Sie haben also alles gehört, was ich gesagt habe. Sorgen Sie dafür, daß er sich im Moment nicht zu sehr anstrengt. Aber die Symptome sind nicht gefährlich. Wenn es schlimmer wird oder wenn neue Symptome hinzukommen, dann geben Sie mir Bescheid. Wir kommen morgen zu Ihnen raus.«
»Ich werde tun, was ich kann. Soll ich ihn ins Bett packen?«
»Das ist nicht notwendig. Sorgen Sie nur dafür, daß er nicht zuviel tut und daß er sich ausruht, wenn er Schmerzen hat.«
Damit war die Funksprechstunde für den heutigen Tag abgeschlossen. Es war halb sechs. Cassie wandte sich an Horrie. »Du hast gehört, daß ich der Mutter dieses kleinen Mädchens gesagt habe, du würdest dich um sieben noch mal melden, um nachzufragen, ob das Fieber gesunken ist? Soweit ich weiß, werde ich den ganzen Abend über zu Hause sein. Falls ich woanders sein sollte, gebe ich dir Bescheid.«
»Ich dachte, du gehst rüber zu den Adams.«
Cassie grinste. »Diese Kleinstädte. Woher weißt du das schon wieder?«
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