Wer den Himmel berührt
Sie erwartete nicht wirklich eine Antwort. Ja, sie würde auf dem Heimweg dort vorbeischauen und Isabel etwas vorlesen. Sie und Fiona würden Reste essen – aus dem gekochten Huhn, das es gestern zum Abendessen gegeben hatte, einen Geflügelsalat zubereiten. Sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen.
Seit sie draußen auf Tookaringa gewesen war, hatte sie Isabel kaum noch vorgelesen, und seit der Amputation vorgestern abend hatte sie kein Wort von Chris gehört. Er hatte sich kaum auch nur bei ihr bedankt.
Sie sah sich um. Innerhalb von nicht mehr als zwei Tagen hatte die Wellblechhütte sich optisch enorm verändert – vor allem das Zimmer neben der Funkzentrale, der Raum, der Horrie und Betty als Küche und Wohnzimmer diente.
»Horrie hat mir versprochen, daß wir eine Veranda um das ganze Haus herum anbauen können«, sagte Betty, »vor allem auf der Rückseite, damit wir abends draußen sitzen können.«
Die Neuregelung ihrer Unterbringung schien sie keineswegs zu entsetzen.
»Sie kann schon fünf Buchstaben«, sagte Horrie und meinte damit das Morsealphabet. »Sie lernt wirklich schnell.«
»Entweder du bist ein guter Lehrer, oder du bist voreingenommen«, sagte Sam. Er mußte Cassie um acht, um elf und um Viertel vor fünf zu den Sprechstunden rausfahren, bis Flynn sich in der Lage sah, ihr einen eigenen Wagen zur Verfügung zu stellen.
»Setz mich bei Dr. Adams ab«, sagte Cassie, als sie in Sams Fahrzeug stieg.
»Vielleicht werdet ihr noch Busenfreunde.«
»Das bezweifle ich. Er hat sich benommen, als sei ihm jede einzelne Sekunde mit mir ein Greuel, als ich ihm vorgestern abend assistiert habe.«
»Er hat sich noch nicht mal bei dir bedankt?« Sam schob sich den Schirm seiner Baseballmütze in den Nacken.
»Kaum. Aber eins muß ich ihm lassen … er ist ein verdammt guter Chirurg. Ich war beeindruckt.«
Sam sagte nichts, und daher sah Cassie aus dem Fenster. »Wie ist es hier eigentlich im Winter?«
Sam warf einen Blick auf sie. »Versuchst du, das Thema zu wechseln?«
»Nein, eigentlich nicht«, sagte sie und starrte immer noch auf Augusta Springs hinaus. »Aber von meiner Seite aus ist es erschöpfend abgehandelt. Mehr habe ich zu Chris Adams nicht zu sagen.«
»Es ist kalt. In den Winternächten kann es zu Frost kommen. Was den Rest des Jahres angeht, ist es hier, wie du bereits sehen kannst, staubig.« Über allem lag ein rötlicher Schimmer, was auf den ständig aufwirbelnden Staub zurückzuführen war. »Wenn Staubstürme aufziehen, macht man alle Luken dicht, und es kann trotzdem noch sein, daß ein paar Pfund Staub alles überziehen. Mit dem Fliegen ist es dasselbe. Die meiste Zeit über kann ein Flugzeug von allein fliegen, aber in Staubstürmen, Mann! Oder wenn es wirklich heiß wird, das wirst du in wenigen Monaten erleben, dann kommt es haufenweise zu Turbulenzen. Da, wo kaum etwas vom Orilla River zu sehen ist, können wir im März schwimmen gehen. Sieh dir nur an, wie sich der Sand von Osten her einen Weg in die Stadt bahnt. Im März und April werden wir dort Picknicks machen. Vielleicht sogar schon eher.«
»Warum schlagen all diese Aborigines immer mittendrin ihr Lager auf?«
Sam zuckte die Achseln. »Warum nicht? Ihnen gefällt es nicht, in der Stadt zu leben, in Häusern. Wir beide sind direkt nach dem Höhepunkt des ganzen Jahres hergekommen, den Rennen auf dem Fluß.«
»Du meinst Bootsrennen? Wo? Doch bestimmt nicht auf dem Orilla?«
Sam lachte. »Ich sollte abwarten, bis du es nächstes Jahr selbst gesehen hast. Sie haben es vom Henley-on-Todd in Alice Springs abgeguckt. Dort haben sie Boote mit gläsernem Boden, und soweit ich gehört habe, sind die Verzierungen einfach unglaublich. Es ist
das
Ereignis des Jahres.«
Als sie in die Innenstadt fuhren, sah Cassie sich um. In einem langgestreckten, niedrigen Holzhaus war die Gemischtwarenhandlung untergebracht, Teakle und Robbins. Nebenan war der Friseur. Daneben war eine der beiden Metzgereien der Stadt, und dann folgte ein Schuhgeschäft. Der Apotheke war eine Milchbar angeschlossen, die dafür berühmt war, ausgezeichnete Sodas zu servieren. Davor stand die einzige Tanksäule der Stadt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war der Elektriker, und dann kamen das Obst- und Gemüsegeschäft, das Büro einer Fluglinie, ein Billardsalon und ein Gasthaus – die Zimmer waren vorwiegend von Regierungsbeamten belegt, die hofften, sie würden nicht so lange in Augusta Springs bleiben, daß es sich lohnte,
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