Wer den Himmel berührt
Patienten auf, sprang jedoch selten sachte mit ihnen um und schien sie keineswegs dazu zu ermuntern, ihm Dinge anzuvertrauen.
Er konnte niemanden leiden, der nicht war, was auch er war, der nicht Protestant, weiß und von britischer Abstammung war. Aborigines konnte er nicht ausstehen. »Sie stinken zum Himmel. Sie haben keine Arbeitsmoral, keine ethischen Grundsätze, kein Verantwortungsbewußtsein. Sie sind Heiden.«
Auf Leute wie die Thompsons war er auch nicht gerade wild. »Die glauben, ihnen gehört die Welt, weil sie Millionen Morgen Land besitzen und sich kaufen können, was sie wollen.« Eines der Dinge, die ihm daran gefielen, so weit von den Großstädten entfernt zu leben, war, daß es hier keine Juden gab. Cassie fragte ihn, was er gegen sie einzuwenden hatte.
»Sie haben Christus gekreuzigt, oder etwa nicht?« Sie fand das nicht allzu einleuchtend. Er war der Meinung, Hitler ginge zu weit, wenn er die Juden in Konzentrationslager verfrachtete und sie in Gettos isolierte; das fand er nicht richtig, und doch fand er, die Juden seien zu gerissen. Juden, die Medizin studierten, bestanden jeden Kurs nur mit den allerbesten Noten. Sie waren Shylocks und immer nur auf Berufe aus, mit denen man viel Geld verdienen konnte.
Er hieß die Einwanderungspolitik Australiens gut, die nur weiße Immigranten im Land haben wollte.
Aber er war nicht der Meinung, man müsse leiden oder sterben, wenn man sich keine medizinische Hilfe leisten konnte. Er behandelte Patienten, die es sich nicht leisten konnten, für die Behandlung zu bezahlen, wenn auch nur murrend.
Er ging ausnahmslos freundlich mit seiner Frau um, obgleich Cassie nie eine Spur von Wärme zwischen den beiden wahrnahm. Vielleicht versucht man, sich selbst zu schützen, wenn man jemanden sterben sieht, jemanden, den man so lange Jahre geliebt hat, erklärte sie es sich rational. Fest stand, daß er sich ständig um sie kümmerte und ihre Pflege persönlich übernahm, wenn Grace sich an den Samstagnachmittagen und den Sonntagen um ihre eigene Familie kümmerte.
Cassie konnte nicht behaupten, daß sie ihn wirklich mochte, doch sie hatten einen Waffenstillstand miteinander geschlossen. Er konnte nichts an ihren medizinischen Fähigkeiten aussetzen, ob sie nun eine Frau war oder nicht. Das hatte er sogar zugegeben. Nein, »zugegeben« traf es nicht wirklich. Er war kein Mann von der Sorte, die sich jemals eingestanden hätte, sich in irgendeiner Hinsicht geirrt zu haben. Aber er gab ihr zu verstehen, daß er der Meinung war, sie besäße medizinisches Gespür. Er hatte die Resultate von chirurgischen Eingriffen beobachtet, die sie im Busch vornahm, wenn sie Patienten zur Wiederherstellung ins Krankenhaus gebracht hatte.
Sie fragte sich, wo Blake wohl sein mochte. Alles, ganz gleich, worüber sie auch nachdachte, lief immer wieder auf Blake Thompson hinaus. Sie hatte sich Gedanken über Chris gemacht, und dann war Blake darin aufgetaucht. Sie kam an der Sattlerei vorbei und dachte an Blake, wie er Vieh zusammentrieb und mit Tausenden von Rindern zweitausend Kilometer weit durch Wüsten und Gebirge ritt, fernab von jeder Zivilisation, unter den Sternen schlief und vielleicht die Rinder in den Schlaf sang.
Sie setzte sich auf die Veranda, nachdem sie zu Abend gegessen hatten, trank Eistee und erinnerte sich an seine Küsse. Sie lag nachts im Bett und fragte sich, wie es wohl gewesen wäre, wenn seine Hände ihren Körper liebkost hätten.
Sie zog ihr Nachthemd aus, stand im Dunkeln und schaute zum Fenster hinaus. Chris lief durch die Straße, mit zügigen und entschlossenen Schritten, als sei er wütend, und dabei schaute er weder nach links noch nach rechts. Ihre Hände legten sich auf ihre Brüste, weil sie von Sehnsucht erfüllt war. In der Ferne klang das Pfeifen eines Zuges wie ein Stöhnen.
Während der Funksprechstunde um elf Uhr am Freitagmorgen sagte eine Frauenstimme: »Mein Sohn hat Schmerzen.«
Cassie beugte sich vor, dicht über das Mikrofon. »Erläutern Sie mir die Symptome.«
»Er blutet aus dem Rektum.«
Ihre Stimme war ruhig, ohne jede Spur von Panik.
»Wie alt ist er?«
»Sechs.«
Eine Frau, die nicht viele Worte machte.
»Sind sonst noch andere Symptome aufgetreten?«
»Er hat schlimme Magenschmerzen.«
»Übergibt er sich?«
»Nein.«
»Hat er Durchfall?«
»Nein.«
»Hat er einen Ausschlag?«
»Nein.«
»Hat er Fieber?«
»Wir haben kein Thermometer, aber er fühlt sich nicht heiß an.«
»Wann hat es
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