Wer den Himmel berührt
lassen«, sagte sie zu Cassie.
Sam zog die Tür zu. Der kleine Junge ließ Cassie allein und krabbelte auf den Schoß seiner Mutter. Sam schnallte die beiden an.
»Jesus Christus«, flüsterte er Cassie zu, als er sich auf seinen Sitz gleiten ließ und den Motor anließ. »Wie kann ein Mann eine Frau so behandeln? Hast du ihr Gesicht gesehen?«
»Er muß sie schon seit Ewigkeiten schlagen. Ich wette, ihr ganzer Körper ist voller Prellungen und blauer Flecken.«
Sam konzentrierte sich auf den Start. Als die Flughöhe erreicht war und er das Flugzeug abfing, drehte er sich zu ihr um und sagte mit gesenkter Stimme: »Dem Jungen scheint nichts zu fehlen. Glaubst du, sie hat ihn als Vorwand benutzt, um uns herzulocken?«
Cassie zögerte einen Moment. »Ich habe den Verdacht, er hat den Jungen anal mißbraucht, und das schon seit langem. Der Kleine fürchtet sich vor Männern. Er hat Angst gehabt, sich umzudrehen. Ich kann mir gut vorstellen, daß sein Vater das lange Zeit über oft zu ihm gesagt hat.« Sie konnte es regelrecht hören.
Dreh dich um, mein Sohn.
Als Cassie ihren Patienten an Chris übergab, sagte sie: »Mrs. Higgins kann nicht zu ihrem Mann zurückgehen. Wir werden etwas anderes für sie finden müssen.«
Chris zog eine Augenbraue hoch. »Ist das nicht ihre Sache?«
»Sie wird nicht zurückgehen wollen. Der Anus des Jungen ist von seinem Vater aufgerissen worden. Und sehen Sie sich diese Frau an. Sie ist oft geschlagen worden. Sie wird nicht zu ihm zurückgehen.«
»Der Junge wird jahrelang traumatisiert sein. Wahrscheinlich wird er niemals zu einer echten Beziehung in der Lage sein. Sexualität wird ihm teuflische Angst einjagen.« Chris setzte seine Brille ab und polierte die Gläser mit seiner Krawatte; Cassie wurde allmählich bewußt, daß er das recht oft tat, vor allem dann, wenn er nicht wußte, was er tun sollte.
»Ist das der erste Fall von mißhandelten Ehefrauen oder Kindesmißbrauch, der Ihnen begegnet ist?«
»Wie meinen Sie das? Ja, selbstverständlich.«
»Sie gehen immer zurück.«
»Immer? Sie meinen, daß … erzählen Sie mir das bloß nicht.«
»Was für eine andere Wahl bleibt den Frauen schon? Wie sollen sie sich selbst und ihre Kinder ernähren? Sie brauchen nur abzuwarten, und Sie werden selbst sehen. Es wird nicht allzulange dauern, bis er hier auftaucht, ganz gleich, was es ihn kostet oder wie weit er von hier weg ist. Und er wird ihr sagen, daß es ihm leid tut. Er wird ihr sagen, daß er sie liebt und daß er es nie wieder tun wird. Warten Sie es ab.«
Cassie wollte es nicht abwarten. Chris irrte sich. Er mußte sich einfach irren.
»Können wir den Kerl nicht verhaften lassen?«
»Falls sie bereit ist, Anklage gegen ihn zu erheben. Aber das wird sie nicht tun.«
»Woher wissen Sie das?« Warum war er bloß so verdammt selbstsicher?
Chris seufzte. »Ich wünschte, Sie hätten recht. Das sind genau die Situationen, in denen ich nicht gerade stolz darauf bin, ein Mann zu sein. Ich habe viel mehr von der Sorte zu sehen bekommen, als ich jemals sehen wollte. Sie werden es auch noch oft zu sehen bekommen, Doktor. Hier draußen, so fern ab von anderen. Fast immer ist auch Alkoholismus im Spiel. Jedenfalls da, wo Ehefrauen geschlagen werden. Nicht so sehr, wenn es um Inzest geht. Das fällt unter Sadismus. Menschen, die anderen diese Dinge antun, sind krank … Aspekte des Lebens, über die man uns während des Medizinstudiums nicht unterrichtet. Solche Dinge und die Buchhaltung fallen bei jedem Medizinstudium unter den Tisch.« Cassie begriff, daß er versuchte zu scherzen.
»Sie werden ja sehen«, sagte Cassie noch einmal. »Sie wird nicht zurückgehen. Sie hat uns gerufen, damit sie von dort fortkommt. Sie werden es ja sehen.«
»Finden Sie eine Stellung für sie. Helfen Sie ihr. Ganz gleich, was Sie auch tun, sie wird zurückgehen. Ich kann Ihnen auch sagen, was passiert, wenn sie nicht zu ihm zurückgeht. Sie wird einen anderen Mann finden, der sie schlägt. Vielleicht wird der nächste Mann ihr Kind nicht vergewaltigen, aber er wird sie schlagen. Aus diesem Teufelskreis gibt es kein Entrinnen.«
»O Chris, Sie sind so verdammt zynisch. Setzen Sie denn gar kein Vertrauen in die menschliche Natur?«
Er lächelte, was er nur selten tat, doch ein Hauch von Melancholie schwang darin mit. »Ich wünschte, ich wäre so jung wie Sie und mein Idealismus wäre noch intakt. Das ist eines der Privilegien der Jugend.«
Cassie fand nicht, daß man mit
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