Wer einmal lügt
prüfte den Akku-Stand, um sicher zu sein, dass er genug Saft hatte, und auch die Empfangsstärke, um sicher zu sein, dass er erreichbar war. Erbärmlich. Hör auf mit dem Scheiß. Entweder kam Cassie zurück oder eben nicht.
Und was, wenn nicht?
War er bereit zurückzukehren zum … Ja, wohin eigentlich? Noch mehr Schnaps und Blackouts?
Als er um die letzte Ecke zu seiner Kellerwohnung kam – ein erwachsener Mann in einer Kellerwohnung, Himmelherrgott –, blieb er wie angewurzelt stehen. Vor seiner Wohnung standen vier Streifenwagen.
Uh-oh.
Er versteckte sich hinter einem Telefonmast. Noch erbärmlicher. Er überlegte, ob er abhauen sollte, aber was hätte das gebracht? Wenn sie ihn festnehmen wollten, hätte Broome das doch ohnehin vor zehn Minuten erledigen können. Er sah noch einmal hin. Sein pakistanischer Vermieter Amir Baloch stand mit verschränkten Armen vor dem Haus. Ray ging zaghaft zu ihm, in sicherer Erwartung, dass ihn jeden Augenblick die Polizisten ergreifen würden. Doch das taten sie nicht. Stattdessen trugen sie leere Kartons ins Haus und kamen mit vollen wieder heraus.
Amir schüttelte den Kopf. »Genau wie damals in der alten Heimat.«
»Was ist los?«, fragte Ray.
Ein Polizist sah Ray und kam auf ihn zu. Auf seinem Namensschild stand Howard Dodds. »Raymond Levine?«
»Ja.«
»Ich bin Officer Dodds.« Er reichte ihm ein Blatt Papier. »Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss für dieses Haus.«
»Er wohnt doch nur im Keller«, jaulte Amir.
»Der Beschluss gilt für das ganze Haus«, sagte Dodds.
Ray beachtete den Zettel nicht. »Kann ich Ihnen bei der Suche behilflich sein?«
»Nein.«
»Ich kann Ihnen die Passworte für meinen Computer geben, falls Ihnen das irgendwie weiterhilft.«
Dodds lächelte: »Netter Versuch.«
»Wie bitte?«
»Manche Passworte dienen dazu, Dateien zu zerstören oder zu löschen.«
»Das wusste ich nicht.«
»Sie wollen also nur helfen, was?«
»Also«, sagte Ray, »ja.«
»Dann lassen Sie uns einfach unsere Arbeit machen.« Er drehte sich um und ging wieder ins Haus.
Ray sah den aschfahlen Vermieter an. »Tut mir leid, Amir.«
»Haben Sie eine Ahnung, wonach die suchen?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
Amir sah ihn an. »Werde ich Schwierigkeiten bekommen?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut.«
»In Karatschi habe ich Schwierigkeiten bekommen. Ich war sechs Monate im Gefängnis. Darum sind wir nach Amerika gekommen.«
»Tut mir leid, Amir.«
»Was werden sie finden?«
»Nichts«, sagte Ray. Er war sich sicher. Sie würden all seine Fotos durchsehen, aber nichts finden. Wieder ging ihm die Nacht mit dem vielen Blut durch den Kopf. Das war das einzige Bild, das er nie im Alkohol würde ertränken können – das einzige Bild, das nie verblassen würde.
Das stimmte nicht ganz. Auch Cassie würde nie verblassen.
Ray dachte an das seltsame Foto von dem kahlrasierten Mann mit Kinnbart, das Broome ihm gezeigt hatte. Er verstand zwar nicht, warum, hatte aber das Gefühl, als drängte man ihn immer weiter in die Enge. Er ging und ließ Amir allein vor seinem Haus stehen. Einen Moment lang hatte Ray das Gefühl, er würde in Tränen ausbrechen. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal richtig geweint hatte, so wie er es jetzt gerne getan hätte. Nur zwei Momente in seinem Erwachsenenleben fielen ihm ein: der erste, als sein Vater gestorben war. Der zweite vor siebzehn Jahren dort in den Pine Barrens.
Er ging die Straße hinunter, an seinem Lieblingspub vorbei, aber er ging nicht hinein. Er wollte nicht. Das passierte ihm nicht oft. Eins wollte er jedoch – er wollte es schon seit langem, es wurde ihm aber jetzt erst bewusst –, er wollte sein Herz ausschütten. Das klang extrem kitschig, nach New Age und nach Therapeuten-Sprech.Und vermutlich würde auch das ihn nicht wirklich befreien, wenn er jemandem die Wahrheit über jene Nacht erzählte, aber vielleicht brachte es ihn zumindest von seinem selbstzerstörerischen Weg ab.
Vielleicht hatte er Broome ja auch deshalb das Foto geschickt.
Die Frage lautete nun, mit wem er reden sollte. Als er das Handy anstarrte, lag die Antwort auf der Hand.
Das Handy hatte noch nicht wieder vibriert, aber was hieß das schon? Sie hatte den ersten Schritt gemacht. Jetzt war er an der Reihe.
Als Ray die Wählen-Taste drückte, erschien erneut der Name Megan Pierce im Display. Er hielt das Handy ans Ohr.
EINUNDDREISSIG
M egan stand vor Agnes’ Zimmer im Korridor, als ihr Handy
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