Wer einmal lügt
richtig spürte, wie in ihr etwas nachgab. »Mein ganzes Leben ist eine einzige Lüge.«
Agnes rang sich ein Lächeln ab und tätschelte ihre Hand. »Ach, das kann man so nicht sagen.«
»Du verstehst das nicht.«
»Liebst du meinen Davey?«
»Ja.«
»Megan?«
»Was ist?«
»Ich weiß«, flüsterte Agnes mit einer Stimme, bei der die Temperatur im Zimmer um ein paar Grad zu sinken schien.
»Was?«
»Letzte Woche.«
»Was ist mit letzter Woche?«
»Einen Tag nachdem Davey dich uns vorgestellt hat, hab ich im Emerson College angerufen. Du hattest erzählt, dass du da studiert hast. Na ja, aber irgendwie passte das nicht zusammen. Also habe ich da angerufen. Sie hatten nie von dir gehört.«
Megan wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Ich werd’s keinem verraten.« Sie flüsterte. »Das ist schon okay. Ich belüge Roland auch über mein Alter. Ich bin drei Jahre älter als er, aber das weiß er nicht. Wichtig ist nur, dass du meinen Davey liebst. Und das tust du. Ich weiß das. Außerdem bist du gut für ihn. Nicht wie diese reichen, versnobten Mädchen aus der Stadt. Dein Geheimnis ist bei mir sicher, mein Schatz. Ich habe nur eine Bitte.«
Megan lief eine Träne über die Wange. »Und was?«
»Schenk mir ein paar Enkel. Du wirst eine wunderbare Mutter sein.«
Agnes wusste Bescheid, dachte Megan. Die ganze Zeit – jahrelang – hatte sie gewusst, dass ihre Schwiegertochter sie belog. Es war eine beinahe unerträgliche Erkenntnis.
»Megan?«
»Ich verspreche es.«
»Nein, darum geht’s nicht.« Agnes’ Augen flackerten. Sie sah zur Tür. »Sie wollen mich in die zweite Etage stecken, oder?«
»Ja. Aber wenn du nicht willst, musst du da nicht hin.«
»Es wird nichts nützen.« Sie senkte die Stimme. »Er wird mich finden. Selbst da oben. Er wird mich finden und umbringen.«
»Wer?«
Agnes sah nach links und nach rechts. Sie beugte sich vor und sah Megan direkt in die Augen. »Der böse Mann, der nachts kommt.«
In diesem Moment fiel Megan die Überwachungskamera im Digitalwecker wieder ein.
»Agnes?«
»Ja.«
»War der böse Mann gestern Nacht auch hier?«
»Natürlich. Deshalb hab ich dich ja angerufen.«
Manchmal war es, als hätte man es mit einem menschlichen Fernsehgerät zu tun, bei dem dauernd die Sender wechselten. Megan deutete auf den Wecker. »Weißt du noch, wann er gestern hier war?«
Agnes fing an zu lächeln. »Die Überwachungskamera.«
»Ja.«
»Dann kannst du ihn sehen. Du kannst dir den bösen Mann angucken.«
»Wir können nachsehen.«
Aufgrund des in die Überwachungskamera eingebauten Bewegungsmelders mussten sie sich jetzt kein neunstündiges Video ansehen. Auf der Rückseite des Weckers blinkte eine Leuchtdiode. Das bedeutete, dass im Speicher etwas aufgezeichnet war.
»Ich bin gleich wieder da, Agnes.«
Megan eilte den Flur entlang zur Rezeption, lieh sich dort einen Laptop und ging direkt zurück ins Zimmer. Agnes saß immer noch auf dem Bett. Die Uhr hatte einen USB -Anschluss. Megan stellte sie aufs Bett und steckte den Stecker in den Laptop. Agnes rückte näher an sie heran. Das Symbol der Überwachungskamera erschien. Megan schob den Mauszeiger darauf.
»Wenn er bei dir im Zimmer war«, sagte Megan, »werden wir ihn gleich sehen.«
»Was ist hier los?«
Beide sahen zur Tür. Missy Malek war eingetreten, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und die Lippen geschürzt. Sie musterte die Szene – die beiden Frauen auf dem Bett, die Uhr am Laptop angeschlossen –, und ihre Augen weiteten sich. »Was ist das?«
»Eine Überwachungskamera«, sagte Megan.
»Wie bitte?«
»Eine versteckte Kamera. Sie ist in diese Digitaluhr eingebaut.«
Malek lief rot an. »So etwas dürfen Sie hier nicht benutzen.«
»Das habe ich aber schon.«
»Wir haben hier Regeln, um die Privatsphäre der Bewohner zu schützen. Als Agnes hier eingezogen ist, hat ihr Mann als Betreuungsbevollmächtigter eine Vereinbarung unterschrieben. Darin wurde ausdrücklich festgelegt …«
»Ich habe es nicht unterschrieben«, sagte Megan.
»Weil Sie keinen rechtlichen Status haben.«
»Genau. Und dies ist Agnes’ Zimmer. Sie wollte die Kamera hier drin haben, stimmt’s, Agnes?«
Agnes nickte. »Ja, das stimmt.«
»Sie verstehen das nicht«, sagte Missy Malek. »Sie haben uns gefilmt?«
»Ich denke schon.«
»Wissen Sie, was für ein Vertrauensbruch das ist?«
Megan zuckte die Achseln. »Wenn Sie nichts zu verbergen haben …«
»Natürlich haben wir das nicht.«
»Na
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