Wer fuerchtet sich vor Stephen King
Toten zurückzuholen – und welchen Preis er dafür zahlen muss.
Die Verfilmung arbeitet neben dem Indianerfriedhof ein zusätzliches übersinnliches Element ein – der Junge, der Creed im Krankenhaus unter den Händen wegstarb, entpuppt sich als der Geist jenes Jungen, der vor langer Zeit auf dem Indianerfriedhof begraben wurde und nun zurückgekehrt ist, um Creed und später seine Frau vor dem Friedhof zu warnen. Damit erreicht King eine Steigerung des Grauens und der Spannung, die ihm anscheinend erst nach Niederschrift des Romans beim Verfassen des Drehbuchs eingefallen ist.
Bekamen die Leser mit FRIEDHOF DER KUSCHELTIERE einen extremen, konzentrieren Horror à la Stephen King pur geboten, so erwartete sie mit dem nächsten Buch ein ganz anderes Erlebnis, eine Reise in die Welt der Phantasie. Schon seit geraumer Zeit arbeitete Stephen King mit seinem Freund, dem Schriftsteller Peter Straub, an einem Roman, der dann 1984 erschien. Genau einhundert Jahre nach Tom Sawyer bricht dessen Namensvetter Jack zu seiner Reise auf, aber nicht den Mississippi hinunter auf einem Floß, sondern quer durch die USA. Tom Sawyers Mississippi ist zu Jack Sawyers Straßen- und Schienennetz geworden, doch ihrer beiden Ziele liegen im Westen. Jack Sawyer kann seine krebskranke Mutter nur vor dem Tod bewahren, wenn er den geheimnisvollen TALISMAN (THE TALISMAN) findet, doch der liegt in der Region , in die Jack überwechseln kann, wenn er einen Schluck Zaubersaft aus einer billigen Weinflasche trinkt, einer mittelalterlichen, aber gar nicht märchenhaften Welt, in der die „Twinner“ der Menschen leben, ihre Spiegelbilder. In dieser Welt ist seine Mutter die Königin, der ihre Feinde hartnäckig zusetzen und die von einer seltsamen Schlafkrankheit befallen ist. Nur Jack scheint keinen Twinner zu haben, denn der wurde vom bösen Morgan von Orris im Schlaf ermordet, der den Thron der Region beansprucht und in unserer Welt Morgan Sloat heißt und genauso böse ist. Allerdings lebt Jacks Twinner – es ist Jason, der in unserer Welt einst auf die Suche nach dem Goldenen Vlies ging, in der Region aber für Jesus steht.
Der Roman hat die Form einer Quest , erzählt einfach die Reise von Punkt A nach Punkt B, allerdings auf zwei Ebenen: in unserer Welt und der Region, die jedoch in Wechselwirkung miteinander stehen: Ereignisse in der einen Dimension beeinflussen auch die in der anderen. Während Jack in unserer Welt unter die Heimatlosen der Reagonomics gerät und die Schattenseite der Wohlstandsgesellschaft kennenlernt, findet er in der anderen zwei Freunde – einen Werwolf, der in unserer technischen Welt nicht überleben kann, und den Sohn des bösen Zauberers – und erfährt, dass Morgan in der Region zu Macht gelangt ist, weil er unsere Technik mit hinübergenommen hat – hauptsächlich Waffen, deren sterile Rationalität nun die Region des Zaubers und der Phantasie verdirbt.
In Kalifornien heißt Jack Sawyers Ziel Agincourt, in der Region sind es die Ruinen Alhambras. Der Kampf findet erneut auf zwei Ebenen statt: Einerseits muss Jack sich gegen vampirische Ritter behaupten, andererseits muss er das Böse in sich selbst besiegen, das die Phantasie der Region verdirbt, bevor er erkennt, was der Talisman wirklich ist: die Achse aller möglichen Welten im Mikrokosmos. Seine Kraft ist die des Guten, das nun auch in Jack selbst freigesetzt wurde, die das Böse auslöschen und das Kranke heilen kann – was sie auch tut.
Natürlich ist Jacks Reise auch die der Reife, die Reise des Kindes zum Mann, ein ständig wiederkehrendes Thema bei King. Wie Mark Twain schon in TOM SAWYER schrieb, muss die Reise an dieser Stelle enden, denn sonst wäre sie die eines Mannes und nicht mehr eines Jungen. Jacks Mutter ist gesund, die Königin öffnet die Augen, doch der Talisman ist fort.
Während Stephen King als „Bic Mac mit Pommes“-Autor gilt, der aus dem Bauch heraus schreibt, gilt Peter Straub als einer der großen, gehobenen Stilisten der phantastischen Literatur. Dennoch funktioniert ihre Zusammenarbeit gut – schon bald verschmilzt der jeweilige Stil, und heraus kommt ein Buch, „wie ich es wohl nie mehr schreiben werde“ (King). Ein phantastisches Buch im besten Sinne des Wortes, kein ausgesprochener Horrorroman, wenngleich natürlich zahlreiche Elemente der Horrorliteratur darin verwendet werden; ein Buch, das sich wie Michael Endes UNENDLICHE GESCHICHTE aufmacht, die letzten Reste der Phantasie zu retten, nach der Rettung der
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