Wer fuerchtet sich vor Stephen King
sie nicht zur Rechenschaft, nur ihr eigenes Gewissen.
Dreißig Jahre vergehen. Jahre des Verfalls ihrer Arbeitgeberin, die nach mehreren Schlaganfällen Dolores immer wieder auf kindlich-grausame Art und Weise quält; aber auch Jahre der wachsenden Zuneigung zwischen den beiden Frauen, in denen Dolores sich aufopfernd um die immer hilfloser werdende Vera kümmert. Erst unmittelbar vor und nach Veras Tod werden die Schleier der Vergangenheit gelüftet, kommen alle unausgesprochenen Vermutungen, alle düsteren Geheimnisse auf den Tisch: Auch Vera hat ihren Ehemann umgebracht, und dermaßen erpressbar geworden, schenkte sie ihren Kindern den Wagen, in dem sie ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes starben – aber nicht für Vera. In ihrer Phantasie lebten sie weiter, zumindest so lange, wie Dolores sich gelegentlich nach ihnen erkundigt. Vor der Sonnenfinsternis streben die Geschehnisse einem ersten Höhepunkt entgegen: Dolores tötet ihren Mann, und Vera erkennt, dass ihre Kinder nicht mehr zurückkommen werden. Doch ihre Geister wird Vera ihr Leben lang nicht los. Bis zu ihrem Tod verfolgen sie die alte Frau als Wollmäuse, die ihr Gesicht annehmen, sich in der Dunkelheit sammeln, unter dem Bett lauern, immer näher kommen …
Vera empfindet eine Schuld, die Dolores fremd ist. Aus ihrer Sicht war es unumgänglich, ihrem Mann das Leben zu nehmen: Als Joe nicht mehr an seine Tochter Selena herankommt, wirft er lüsterne Blicke auf seinen jüngsten Sohn. Nicht ihretwegen hat sie ihn umgebracht, sondern wegen ihrer Kinder – aus Liebe zu ihren Kindern, aus Sorge um deren Zukunft und aus einem einfachen Gerechtigkeitsempfinden heraus. King legt mit DOLORES CLAIBORNE die beeindruckende Charakterstudie einer vom Leben gebeutelten Frau vor; er schreibt spannend und rasant, geradezu fesselnd. Sein Stil ist dem Inhalt und der Form des Romans angepasst: Dolores Claiborne spricht so klar und deutlich, slangbehaftet und gefühlstief, mitreißend und glaubwürdig, einfach so lebensecht, dass man tatsächlich glaubt, die Lebensbeichte einer fünfundsechzigjährigen Frau und nicht das Buch eines fünfundvierzigjährigen Schriftstellers zu lesen.
King schreibt auf den Punkt genau, quälend langgezogen, wenn Joe in einem Brunnen stirbt, und prägnant, was das Gefühlsleben seiner Charaktere betrifft. Er erforscht die Abgründe der Seele, ohne die Ängste, die Sorgen, die Alpträume seiner Charaktere in Gestalt von übersinnlichen Einflüssen veräußerlichen zu müssen. DOLORES CLAIBORNE hat dasselbe Thema zum Inhalt wie die meisten Werke Kings – die Beschäftigung mit inneren Ängsten –, geht es jedoch direkt an, ohne den Umweg einer Veräußerlichung. Der Roman könnte wegweisend sein für die weitere Entwicklung Kings: er holt in DOLORES CLAIBORNE so beeindruckend wie selten zuvor den wirklichen Schrecken direkt aus der Seele – also einzig aus seinen legitimen Quellen – und führt ihn dann konsequent bis zu seinen legitimen Ergebnissen.
DAS LEBEN UND DAS SCHREIBEN * SECRET WINDOWS
„Schreiben ist nicht das Leben, aber manchmal kann es einen Weg zurück ins Leben bieten, glaube ich. Das erkannte ich im Sommer 1999, als mich ein Mann in einem blauen Lieferwagen beinahe umbrachte.“
DAS LEBEN UND DAS SCHREIBEN
Stephen King machte seinen Vorsatz wahr und ging 1993 tatsächlich mit den Rock Bottom Remainders im Bus auf Tour. Tabitha begleitete ihn und machte Fotos. Mit seiner Harley-Davidson war King anschließend quer durchs Land unterwegs, um die Werbetrommel für seinen neuen Roman INSOMNIA zu rühren.
Ein Jahr später, am 31. Oktober 1994, erschien Kings zweite Story im angesehenen New Yorker und sollte noch größere Auswirkungen als seine erste haben. „The Man in the Black Suit“ wurde mit dem O. Henry Award ausgezeichnet, dem wohl angesehensten Preis für amerikanische Kurzgeschichten. King witzelte, dass er den Preis wohl nur bekommen habe, weil die Juroren die in Betracht kommenden Storys ohne Namensnennung der Autoren beurteilt hätten, zu groß sei noch immer der Unterschied zwischen U- und E-Literatur.
Mittlerweile wurden Kings Kinder flügge. Die Tochter Naomi eröffnete ein Restaurant, die Söhne Joe und Owen studierten und traten in die Fußstapfen ihres Vaters und veröffentlichten erste ernstzunehmende Geschichten. King begann sein zweites Sachbuch, ON WRITING, und fand immer mehr Lust an Experimenten wie THE GREEN MILE, einem Fortsetzungsroman in sechs monatlich erscheinenden Teilen, die allesamt auf
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