Wer hat Angst vor Jasper Jones?
sei. Er hätte früher mit mir zurückgehen müssen. Ich gab mir alle Mühe, seine Selbstvorwürfe zu entkräften, trotzdem habe ich das Gefühl, dass er in jener Nacht bedrückter davonging, als er gekommen war. Beladen mit Schuld.
Ich wäre ihm gern nach draußen gefolgt, um ihm zu versichern, dass ich aus eigenem Entschluss in die Sache verwickelt war. Schließlich hätte ich aussteigen können, wenn ich es gewollt hätte. Aber ich glaubte ihm. Ich wollte ihm helfen. Auch wenn ich ihm keine große Hilfe war.
Außerdem wollte ich ihm erzählen, dass ich mich entschlossen hatte, mit ihm zusammen fortzugehen und in die Großstadt zu flüchten, wenn das hier vorüber war.
Ich hatte viel darüber nachgedacht. Vor allem als die Frustration darüber, zu Hause festzusitzen, am größten war. Meine Entschlossenheit schwankte, doch ich hielt an der Idee fest. Natürlich jagte mir der Gedanke ans Weglaufen eine Heidenangst ein, aber die Vorstellung, Corrigan an Jaspers Seite den Rücken zu kehren, war beflügelnd genug, um fest daran zu glauben, dass ich es tatsächlich über mich bringen könnte.
Das zweite Mal tauchte Jasper an Heiligabend auf. Diesmal war er eindringlich und ungeduldig. Fast zur gleichen Zeit wie in der allerersten Nacht klopfte er gegen meine Jalousie. Er keuchte und schwitzte, als wäre er gerannt. Ich klappte die Lamellen hoch und sah ihn von einem Fuß auf den anderen treten.
«Ich
weiß
, dass er es war, Charlie. Ich kann es beweisen.» Ihm quollen vor Aufregung fast die Augen aus dem Kopf. Er roch nach Erde und Zigaretten.
«Sei leise!», sagte ich zu ihm und legte den Finger auf den Mund. «Die Wände sind dünn wie Papier. Nicht dass meine Eltern dich hören. Was ist passiert?»
«Ich hab ihn, Charlie. Jetzt hab ich ihn am Wickel», zischte Jasper.
«Wen? Jack Lionel?»
«Genau.»
«Und wie? Was meinst du damit?»
Jasper erzählte mir, dass er sich im Morgengrauen auf Lionels Grundstück geschlichen hatte, als dieser noch schlief. Jasper war von hinten gekommen, hatte sich durch den Drahtzaun gezwängt und angefangen herumzuschnüffeln. Er war am Pfirsichbaum vorbeigegangen und hatte sich unter der Veranda umgesehen, wo er staubige Schränke öffnete und vollgestopfte Regale absuchte, auf denen außer leeren Farbdosen und Werkzeugen nichts zu finden war. Ich staunte über seinen Mut. Einem anderen als Jasper Jones hätte ich die Sache niemals abgekauft.
Er hatte sogar durch die Fenster ins Haus gespäht, doch auch das hatte ihm nicht viel verraten. In der Küche gab es so gut wie gar nichts: nur einen kleinen Kessel auf dem Herd, einen Blechbecher auf einem Abtropfgestell am Waschbecken und einen kleinen Tisch mit Plastikstühlen. An der Seite des Hauses, direkt unter dem Pfirsichbaum, war durch ein weiteres Fenster ein aufgeräumtes braunes Wohnzimmer zu sehen. Zwei Lehnsessel, ein kleines Radio und ein Fernseher auf einem niedrigen Tisch. Ich drängte Jasper nach weiteren Einzelheiten. Auf einem Klavier am anderen Ende des Zimmers standen Fotografien, die er jedoch nicht erkennen konnte. Ein Landschaftsgemälde. Ein Stapel Zeitungen. Ein Kamin. Die anderen Fenster waren hinter dünnen beigefarbenen Rollos versteckt. Nach dem Heim eines Psychopathen hörte sich das nicht an.
Erst als Jasper aufgab und auf dem gleichen Weg zurückging, den er gekommen war, vorbei am Außenklosett, dem Hühnerstall und dem verwilderten Gemüsegarten, war er darauf gestoßen. Ein Stück hinter Lionels wackligem Wellblechschuppen stand mitten zwischen hohen Büscheln aus Trockengras ein verrostetes Autowrack. Jasper war ohne großes Interesse hingegangen. Die Vorderseite des Gefährts war komplett eingedrückt. Jasper hatte es umrundet und hineingespäht. Überall hingen taubedeckte Spinnweben. Es roch nach Staub und Rattendreck. Und die Reste der Innenausstattung waren komplett verrottet.
Er hatte gerade gehen wollen, berichtete mir Jasper, als er zufällig nach unten sah und es entdeckte. Er sei erstarrt und ihm sei speiübel geworden, erklärte er mir. Er habe geglaubt zu träumen. Dort unten, direkt vor ihm, auf der Beifahrerseite, war etwas in den Rost gekratzt.
Ein einziges Wort.
Verzeihung.
Er hatte es berühren müssen, um es zu glauben. Hatte kaum die Knie beugen können, um sich hinzuhocken und es sich näher anzusehen. Dieses Wort. Das gleiche Wort, diesmal mit Großbuchstaben geschrieben. Und um einiges älter als jenes am Eukalyptusbaum. Es war kaum noch zu sehen, aber es war da.
«Ich
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