Wer hat Angst vor Jasper Jones?
und gar rechtschaffen, niemand entgeht dem schleichenden Fluch. In jeder Geschichte werden die Figuren zwischen Gut und Böse hin- und hergezogen, zwischen richtig und falsch. Doch es sind die Guten, die den Unterschied erkennen, die wissen, wann sie die Grenze überschritten haben. Und es ist eine schwere und demütigende Geste, die eigene Schuld anzuerkennen und Fehler zuzugeben. Man braucht Mut, es auszusprechen und auch so zu meinen. Um
Verzeihung
zu bitten.
Verzeihung
bedeutet, neben dem eigenen auch den Pulsschlag des Schmerzes anderer zu spüren, und seine Reue auszusprechen heißt, einen Teil dieses Schmerzes auf sich zu nehmen. Es verbindet uns und lässt uns ebenso geplagt und gebeutelt zurück wie alle anderen. Reue kann viele Gesichter haben. Sie ist ein wieder aufgefülltes Loch. Eine zurückgezahlte Schuld. Reue ist das Kielwasser der schlechten Tat. Der lähmende Nachhall der Konsequenz. Reue bedeutet Trauer, so wie Wissen Trauer bedeutet. Und manchmal ist Reue Selbstmitleid. Doch im Grunde geht es dabei nicht um uns selbst. Es ist an anderen, uns Verzeihung zu gewähren oder zu versagen.
Dieses
Verzeihung
bedeutet, sich selbst zu öffnen – für eine Umarmung, für Spott oder für Rache. Es ist eine Bitte um Vergebung, weil das Metronom eines guten Herzens nicht zur Ruhe kommen kann, bis die Dinge wieder ins Lot gerückt und richtiggestellt sind. Reue nimmt nichts zurück, sondern treibt die Dinge voran. Sie überbrückt die Kluft. Sie ist ein Sakrament. Eine Opfergabe. Ein Geschenk.
Ja, Reue ist, wenn gute Menschen sich schlecht fühlen. Und die Leute, die mir Sorgen bereiten, sind jene, die sie – durch eine Unterbrechung in ihrem Schaltkreis oder durch ein Loch in ihrem Herzen – weder empfinden noch aussprechen können, sie
nicht
in Bäume kratzen oder mit aneinandergelegten Handflächen zum Himmel hinaufschicken können. Eric Edgar Cooke hat das Wort nie geflüstert. Albert Fish hat sich ihm nie gestellt. Der Frauenmörder von Boston hat dieses Opfer nie gebracht. Gertrude Baniszewski hat es Sylvia Likens nie in die Haut gebrannt. Und deshalb zögert etwas in mir zu glauben, dass es Lauras Mörder war, der dieses
Verzeihung
im Holz hinterlassen hat. Es musste jemand anderes gewesen sein. Ich habe von Mördern gelesen, die an die Stätte ihres Verbrechens zurückgekehrt sind, aber sie taten es nie aus Reue. Nie, um sich mit einem Geist zu versöhnen. Wenn man imstande ist, etwas derartig Böses zu tun, ist man dann überhaupt fähig, ein ebenso großes Maß an Reue aufzubringen?
Aber wer könnte es sonst gewesen sein? Wer wusste noch davon? Wer hätte sonst noch einen Grund, sich zu entschuldigen? Vielleicht stehe ich absichtlich auf der Leitung. Vielleicht irre ich mich. In allem. Und vielleicht hat Jasper recht. Vielleicht verhält es sich mit diesem
Verzeihung
doch nicht so einfach, wie ich glaube, und ist weder ehrenhaft noch romantisch oder erhaben. Vielleicht ist dieses Wort lediglich die Zuflucht der Schwachen. Der beruhigende Balsam der Bösen und Gewissenlosen. Vielleicht bietet es den Empfängern wenig bis überhaupt keine Belohnung. Vielleicht ist es nur ein leeres Versprechen, ein Geschenk in Form eines leeren Kästchens. Vielleicht ist es eigennützig und lieblos. Vielleicht nimmt es sich, was es braucht, ohne etwas zurückzugeben. Vielleicht ist es ebenso miserabel, dumm und bedeutungslos wie alle diese Versatzstücke aus abgedroschenem Gekrakel, die ich gesammelt und weggeschlossen habe.
Ich denke an Eliza, und mein Magen krümmt sich und zieht sich zusammen. Ich schlage eine neue Seite auf, kauere mich darüber und versuche verzweifelt, sie mit Worten einzufangen.
Ein Baum
Weiß nicht, dass er ein Baum ist.
Er weiß nicht, wie hübsch seine Blüten sind,
wie herrlich sie duften
oder wie weich und süß seine Früchte sind.
Er spürt meine Wärme nicht, wenn ich die Arme um ihn lege.
Er kann mich nicht hören, wenn ich ihm diese Dinge sage.
Er weiß gar nichts.
Ich bin froh, dass du kein Baum bist.
Seufzend lese ich durch, was ich geschrieben habe, und reiße das Blatt vom Block. Dann knülle ich es auf Wallnussgröße zusammen. Aber ich werfe es nicht weg, sondern lege es in die oberste Kommodenschublade, auch wenn es das schlechteste Gedicht ist, das je geschrieben wurde.
Scheißegal. Heute Abend überfordert mich die Welt. Mein Hirn ist ein großes, wabbeliges rosa Weichtier. Frustriert werfe ich den Stift fort. Ich lege den Kopf auf die verschränkten Arme
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