Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
Vom Netzwerk:
herab. Hin und wieder hielt sie inne, dennoch schien sie mühelos voranzukommen. Es wirkte zu keiner Zeit gefährlich. Eliza war insgeheim beeindruckt. Trotzdem kam es ihr bedrohlich hoch vor. Sie wollte, dass ihre Schwester wieder herunterkam. Unter anderen Umständen hätte sie ihr genau das zugerufen, hätte verlangt, dass sie herabstieg. So aber saß Laura auf einem dicken Ast, der über das Ufer hinausragte. Eliza fürchtete, sie könnte ins Wasser springen. Es sah gefährlich aus. Sie war unruhig. Laura hingegen wirkte ganz entspannt dort oben. Sie ließ die Beine baumeln und hielt sich mit den Händen fest. Sie saß sehr lange auf dem Ast. Elizas Gedanken drifteten ab. Sie setzte sich ein wenig bequemer hin, überkreuzte die Beine und legte das Kinn in die Handfläche. Und sie wartete. Vielleicht war Jasper unterwegs. Vielleicht wollte Laura einfach irgendwo sitzen, wo es ruhig war. Eliza verstand das. Sie hatte eine schreckliche Zeit hinter sich. Vielleicht brauchte sie einfach ein friedliches, schönes Plätzchen. Eine Festung. Einen Burgturm. Folgendesistpassiert: Es ging schnell. Viel zu schnell. Eliza blieb weder Zeit zum Nachdenken noch zum Handeln. Sie war mit ihren Gedanken woanders, war viel zu weit weg. Sie war sogar ein wenig schläfrig. Das um den Ast gewickelte Seil hatte sie gar nicht bemerkt. Es war ihr wie eine natürliche Unregelmäßigkeit im Holz erschienen, wie eine merkwürdige Wulst in der Rinde. Daher war sie zwar ein wenig verwirrt, als Laura es anhob und abwickelte, aber nicht besorgt. Nicht entsetzt. Schnell, so schnell. Eliza war immer noch nicht ganz bei sich, als sie die Schlinge sah, versteht ihr? Folgendesistpassiert: Laura, mit dem Rücken zu ihrer Schwester, dem Rücken zur Stadt, hatte die Hände am Hals wie ihr Vater, wenn er sich den Schlips band. Dann ließ sie sich hintenüberkippen und fiel. Eliza erinnerte sich, dass sie überrascht war, als ihre Schwester nicht auf dem Boden aufschlug. Es verstärkte die Plötzlichkeit noch, mit der Laura hängen blieb und pendelte, ruckte und zuckte, eine Kluft zwischen sich und der Erde. Dann herrschte Stille. Weißes Rauschen. Eliza schrie und rannte nicht, sie erstarrte. Alles blieb stehen, hörte auf zu existieren, versteht ihr? Es war ein Irrtum. Ganz sicher. Es war nicht passiert. Eliza hatte nur geträumt. Sie war eingeschlafen und aus einem Albtraum hochgeschreckt. Nein, doch nicht. Da war sie. Da war Laura. Schwebte in der Luft und drehte sich langsam, ohne Kampf, wie ein nasser Sack. Dann hing sie still, und alles strömte zurück. Lauras Gesicht war Eliza zugewandt, die aus ihrem Versteck stürzte und an ihrer Schwester zerrte, bis sie einsah, dass es keinen Zweck hatte. Sie war tot. Erloschen wie ein Kerze. Laura war soeben aus der Welt gefallen. Sie war verschwunden. Etwas Gewaltiges, Unsichtbares hatte sie verschlungen. Eliza bekam Panik. Vor ihren Füßen lag etwas. Ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Sie hob es auf und steckte es ein. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte gerade aufschluchzen und losschreien, als sie jemanden kommen hörte. Ihr stockte der Atem. Dann rannte sie zurück in ihr Versteck. Gerade noch rechtzeitig. Sie musste sich beherrschen, um nicht mit den Zähnen zu klappern. Noch nie hatte sie solche Angst gehabt. Das alles war ein schrecklicher Irrtum. Sie schlang die Arme um den Leib, bohrte sich die Fingernägel in die Rippen und wartete. Ihr Atem war zittrig und flach. Sie war kurz davor zusammenzubrechen. Dann tauchte Jasper Jones auf und glitt durch die Akazienzweige. Ein paar gelbe Akazienblüten hingen ihm im Haar. Er blieb stehen. Eliza beobachtete ihn, sah den Moment, in dem er begriff. Er stieß einen rauen Tierlaut aus, wie ein Stöhnen. Dann rannte er geradewegs zu Laura, versuchte sie hochzuhalten, das Gewicht von ihr zu nehmen, ihr Luft zu verschaffen. Doch sie war tot. Egal, wie hoch er sie zu heben versuchte, wie sehr er mit verzweifelter Stimme rief und flehte, dass sich Eliza die Nackenhaare sträubten. Mit fliegendem Atem beobachtete sie seinen chaotischen Kampf. Es war ein makabrer, akrobatischer Tanz. Ein schrecklicher, schauerlicher Zirkusakt. Sie schauderte. Und sie hätte an Ort und Stelle losgeweint, geschrien und geheult, wäre Jasper nicht plötzlich zurückgeschreckt und von der Lichtung geflohen. Wieder war sie allein. Sie kroch ins Freie. Sie musste ihm folgen, sie hatte keine Wahl, hatte keine andere Möglichkeit zurückzufinden. Sie wusste nicht, wo sie war.

Weitere Kostenlose Bücher