Wer hat Angst vor Jasper Jones?
Mutter, warum sie so oft aus dem Haus schleichen musste, um sich mit Jasper Jones zu treffen, selbst nachdem man sie erwischt und zusammengestaucht hatte. Sie erzählte ihr, warum sie es zu Hause nicht mehr aushielt. Welches Unheil ihr nachts widerfuhr. Welche grausigen, finsteren Dinge sich in ihrem Zimmer abspielten. Warum sie sich davonschleichen und in Sicherheit bringen musste, sooft sie konnte. Doch ihre Mutter glaubte ihr nicht, könnt ihr euch das vorstellen? Kein einziges Wort. Sie verteidigte ihn. Sie stand da und nannte Laura eine Lügnerin. Ihre eigene Tochter. Und er? Er saß seelenruhig am Tisch, der Bezirkspräsident. Als er später in ihr Zimmer stürmte, beschimpfte, verhöhnte und bedrohte er sie. Es tat ihm nicht einmal leid. Er trug keine Liebe in sich. Sie spuckte und schrie, nahm sämtlichen Mut zusammen, der ihr noch geblieben war, und schlug mit ihren dünnen Armen um sich. Und er hob die Hand und schlug ihr brutal ins Gesicht, was er noch nie getan hatte. Er schleuderte sie zu Boden, um sie zum Schweigen zu bringen. Dann holte er abermals aus, schlug ihr zweimal in den Bauch, dorthin, wo das Problem saß. Während sie nach Luft rang, umfasste er ihr Kinn und warnte sie, mit seiner hässlichen roten Fratze, seiner ranzigen Alkoholfahne warnte er sie davor, noch mal ein Wort zu sagen. Zu niemandem. Dann drehte er sich um. In einem letzten Akt des Widerstands warf Laura ihm ihren gläsernen Briefbeschwerer hinterher. Sie verfehlte ihn. Er flog gegen die Wand und zerbrach. Ihr Vater knallte die Tür zu. Dasistpassiert. Und Laura gehorchte. Sie sagte kein Wort mehr. Ihr Mut war aufgebraucht. Ihm folgte die Verzweiflung. Aber sie schrieb. Sie schrieb eine Menge. Sie tischte Jasper alles auf. Sie fühlte sich verlassen und gebrochen, verbittert und zugrunde gerichtet. Es war, als wollte sie ihm den gleichen Schmerz zufügen, den sie empfand. Sie hatte nichts mehr auf dieser Welt. Dann kippte sie mit dem Zettel in der Hand vom Ast wie ein Taucher vom Rand eines Bootes. Sie schlug zwei Fliegen mit einer Klappe. Als sie ihr Zimmer verließ, wusste sie, dass es so oder so das letzte Mal war. Dasistpassiert. Jetzt ist es heraus. Es ist heraus.
Ohne mit der Wimper zu zucken, liest Eliza mir mit diesem merkwürdigen Akzent den Brief vor. So, als gehöre die Geschichte nicht zu ihr und als hätten die Worte keine Bedeutung. Als gehe es um Menschen, an denen ihr nichts liegt, um erfundene Gestalten, denen sie nie begegnet ist. Als wäre es ein Traum, aus dem sie gerade erwacht ist. Alle fehlenden Seiten haben ihren Platz gefunden. Eliza Wishart hat mit einem Schlag mit dem ganzen Schlamassel aufgeräumt, doch was übrig bleibt, ist ohne Freude. Nur die Trauer der Erkenntnis.
Es ist grauenhaft. Es ist mysteriös und tragisch, und doch erscheint es mir einleuchtender, als Jack Lionel oder irgendeine andere dubiose Gestalt zu verurteilen. Es fühlt sich wahr an. Laura war in der Lage gewesen, auf eigene Faust herzukommen und den Baum zu erklimmen. Ihr Vater hatte ihr die Flecken im Gesicht verpasst, er hatte die Angst und das Gift in ihren Bauch eingepflanzt. Die Verzweiflung war verantwortlich für ihr Nachthemd und die bloßen Füße. Und alles andere verschwor sich gegen sie, um sie zu Fall zu bringen.
Ihr Vater hat es begonnen, und Laura hat es beendet, und jetzt landet die Schuld bei Eliza, weil sie mit angesehen hat, wie es geschehen ist. Sie tut mir so leid. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss, das die ganze Zeit für sich zu behalten.
Laura Wishart wurde nicht von Mad Jack Lionel entführt. Aber wie es aussieht, wurde sie von etwas geschnappt, das noch viel finsterer und schrecklicher ist. Deswegen haben wir Lionel überhaupt nachgestellt. Deswegen habe ich den Appetit verloren. Deswegen liege ich nachts wach im Bett und habe Angst vor Libellen. Deswegen ist diese Stadt so schnell bereit, sich zu verschließen und mit dem Finger auf andere Leute zu zeigen, wurden Türen verriegelt und die Kinder ins Haus gerufen. Laura hat es einfach nicht länger ausgehalten. Sie hatte niemanden, der sie davor beschützte.
Ich sitze da und schaue zu dem Ast hinauf, auf dem Laura gesessen hat. Etwas Kaltes, Gefühlloses in mir nimmt es Eliza plötzlich übel, dass sie diesen Brief an sich genommen hat. Ich stelle mir vor, wie anders alles verlaufen wäre, wenn er in jener Nacht in Jaspers Hände gelangt wäre. Ich hätte nichts von all dem mitbekommen. Ich wäre wohlbehalten in meinem Zimmer
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