Wer hat Angst vor Jasper Jones?
sich mir zu und spricht wieder mit diesem seltsamen Akzent.
«Kennst du die Tage, wenn dich das rote Grausen packt?»
«Das was?»
Eliza sieht ein wenig ungehalten aus, als würde ich irgendwie auf der Leitung stehen.
«So was wie der Blues», sagt sie sanft.
«Ach so», sage ich. «Du willst wissen, ob ich den Blues bekomme?»
Sie wird ein wenig munterer.
«Nein, den kriegst du, weil du dick wirst oder weil es zu lange regnet. Da ist man traurig, das ist alles. Aber das rote Grausen ist grässlich. Du fürchtest dich und schwitzt wie in der Hölle, aber du weißt nicht, wovor du dich fürchtest.»
«Ehrlich gesagt klingt es haargenau wie das, was ich in den letzten Wochen gehabt habe. Das rote Grausen.»
«Wirklich?», fragt sie.
«Wirklich. Was ist mit dir?»
Wieder starrt Eliza auf den Staudamm. Wir sitzen da und hören den Insekten zu.
Dann dreht sie sich um und sieht mir tief in die Augen. Sie sieht älter aus im Sternenlicht, ihr Gesicht ist angespannt und voller Furchen. Unangenehm lange starrt sie mich an. Ich überlege, ob ich etwas sagen soll. Doch dann bricht sie das Schweigen.
«Ich war es, Charlie.»
«Du warst was?» Ich muss meine Hände festhalten, damit sie nicht zittern.
«Ich habe sie umgebracht. Es ist alles meine Schuld. Ich habe Laura umgebracht.»
Folgendes hat mir Eliza erzählt.
Folgendes ist passiert:
Ich muss es schnell loswerden, muss das Ventil aufdrehen, damit es herausspritzt und heraussprüht, weil es zu heftig ist, zu schwer, zu viel. Ich kann es nicht lange festhalten, weil es sonst brennt. Versteht ihr? Es ist das Wissen. Etwas zu wissen ist immer am schlimmsten. Ich wünschte, es wäre nicht so. Ich will die Stille zurückhaben. Doch das geht nicht. Ich kann sie niemals wiederbekommen. Folgendesistpassiert: Eliza wusste Bescheid über Jasper Jones. Sie wusste, dass er mit ihrer Schwester zusammen war. Sie wusste, dass die beiden sich liebten und dass sie nachts zusammen irgendwohin gingen. Von ihrem Fenster aus, das direkt neben Lauras liegt, konnte sie Jasper kommen sehen. Am Anfang war er vorsichtig. Er blieb im Schatten, wartete und bewegte sich kaum. Gegen Ende wurde er immer dreister. Er schlich einfach bis zum Haus. Klopfte ans Fenster. Und dann sah Eliza Laura mit ihm über den Rasen davongehen, nachdem sie aus dem Fenster geklettert war. So ging es das ganze Jahr, sogar in der kältesten Nacht. Die beiden sprangen über das mit Raureif bedeckte Gras und ließen Eliza grübelnd und spekulierend zurück. Als es wärmer wurde, häuften sich ihre Ausflüge. In letzter Zeit geschah es fast jede Nacht. Und jedes Mal fragte sich Eliza, wohin sie wohl gingen. Sie stellte sich vor, dass die beiden zum Fluss wanderten, vielleicht unter die alte Brücke. Sie war neugierig und neidisch. Sie wäre ihnen zu gern gefolgt, doch sie wusste, dass sie das nicht tun sollte. Es erschien ihr so wunderbar romantisch. Wie aus einem Roman. Einem Märchen. Sie stahlen sich mitten in der Nacht davon, und kurz vor der Dämmerung kehrte Laura zurück. Die Tochter des Bezirkspräsidenten und der Außenseiter; der böse Junge, mit dem alle Mädchen insgeheim gern zusammen gewesen wären. Manchmal umarmten sich Laura und Jasper innig, ehe sie sich trennten. Dann winkte er ihr zu und ging. Sie schienen so fest und unverbrüchlich zusammen zu sein. Doch dann, gegen Ende November, als die Sommerhitze einsetzte, endeten Jaspers Besuche. Eliza fragte sich, ob sie nicht mehr zusammen waren. Sie bedauerte, dass es so war, auch wenn etwas in ihr eine reumütige Befriedigung darüber empfand, dass Laura nicht länger etwas besaß, das sie nicht haben konnte. Hört zu. Folgendesistpassiert: Es ist wie ein Geysir, ein gebrochener Staudamm, ich kann es nicht länger zurückhalten. Denn Eliza ahnte nicht, dass auch ihr Vater, der Bezirkspräsident, in Lauras Zimmer kam. Allerdings klopfte er nicht höflich an. Er schlich sich betrunken hinein. Immer betrunken und immer heimlich. Schlösser gab es nicht. Das alles stand in dem Brief, versteht ihr? Lange bevor Jasper Jones an ihr Fenster kam. Seit sie ein junges Mädchen war. In Elizas Alter. Folgendesistpassiert: Wie ein Korken aus einer Flasche. Ein Zug ohne Bremsen. In jener Nacht, als ich in meinem Buch las, geschah etwas. Es hatte sich angesammelt und aufgestaut. Es lag in der Luft. Bei den Wisharts herrschte schon tagelang eine merkwürdige Stimmung. Sie war angespannt und bedrückend. Ein Übel hatte sich eingenistet. Ärger braute sich
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