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Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
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geblieben. Vielleicht hätte ich noch ein Weilchen gelesen und dann so gut geschlafen wie immer. Ich wäre ganz normal aufgewacht. Nicht unbedingt klüger, aber wesentlich unbeschwerter. Ich hätte Jasper Jones nie kennengelernt, hätte an seiner Geschichte nie teilgehabt, hätte nie diesen schrecklichen Wackerstein im Magen gespürt. Unglück, Melancholie und Schrecken wären für mich bloße Wörter geblieben, von denen ich keine Ahnung gehabt hätte, so wie all die Edelsteine, die ich in meinem Koffer angesammelt habe. Laura Wishart hätte mich nie verfolgt, und ich hätte nie geholfen, ihren Körper an einen Stein zu binden, ich hätte nie die Trauer schlucken müssen, die ebenso schwer wiegt wie dieser Stein. Ich hätte nie dieses Geheimnis hüten müssen, wäre nie mit all dieser Schuld belastet worden.
Verzeihung. Verzeihung. Verzeihung.
Wir hätten keinen einsamen alten Mann des Mordes verdächtigt. Ich hätte nie von den grauenhaften Dingen gelesen, die Menschen einander antun. Ich hätte meine Mutter nie in flagranti erwischt, hätte nie etwas
gewusst
. Es stünde mir frei, Eliza Wisharts Hand zu halten, ohne fürchten zu müssen, dass es das letzte Mal ist.
    Trotzdem ist es vielleicht gut, dass dieser Brief nie in Jaspers Hände gelangt ist. Ich weiß nicht, was er getan hätte, aber ich bezweifle, dass es mein Fenster gewesen wäre, dass er aufgesucht hätte. Vermutlich wäre er schnurstracks zu ihrem alten Herrn marschiert. Und wer weiß, was er dann getan hätte. Vielleicht war es das, was Laura gewollt hatte. In ihren Augen war sie von beiden auf die übelste Art und Weise hintergangen worden.
    Doch es hat keinen Zweck, so zu denken. Ich kann Eliza ebenso wenig zum Vorwurf machen, dieses Paket mit Antworten aufgehoben zu haben, wie ich Jasper Jones vorwerfen kann, ein paar Minuten zu spät eingetroffen zu sein. Wenn Jasper in jener Nacht zur Stelle gewesen wäre, gäbe es Laura heute noch. Sie wäre noch am Leben.
    Ich habe Angst vor Jaspers Reaktion, wenn er es erfährt. Dass er sie
tatsächlich
hätte aufhalten können. Er wird es sich nie verzeihen. Am liebsten würde ich die Wahrheit vor ihm geheim halten. Sie vergraben oder ertränken, ihn in einem anderen Glauben lassen.
    Eliza beugt sich vor.
    «Jetzt bist du an der Reihe. Du musst mir einiges erzählen, Charlie.»
    «Was denn zum Beispiel?»
    «Zum Beispiel, woher du Jasper Jones kennst. Und wie es kommt, dass du mit ihm hier warst.»
    «Woher weißt du das?»
    «Weil ich neulich Nacht jemanden gehört habe, als ich gerade auf dem Weg zur Straße war. Das wart ihr beide. Du bist mit Jasper hierhergekommen.»
    «Du bist noch einmal zurückgekommen?»
    «Ja.»
    «Wie hast du die Lichtung wiedergefunden?»
    «Ich habe mich einfach daran erinnert. Ich konnte sie wohl nicht vergessen. Außerdem ist es nicht besonders kompliziert, wenn man dem Pfad folgt und nicht in Panik gerät.»
    Ich schweige einen Moment, dann schaue ich an ihr vorbei zum Baum.
    «Du warst es, die das Wort in den Baum geritzt hat», sage ich.
    Sie dreht sich um und nickt.
    «Ich habe einen Kirchenschlüssel aus der Höhle im Baum benutzt. Ich bin zurückgekommen, weil ich nach Laura sehen wollte. Nachdem die Patrouillen und Suchaktionen nachgelassen hatten und meine Mutter nicht mehr jede halbe Stunde in meinem Zimmer nachgesehen hat, habe ich mich weggeschlichen. Ich
musste
einfach herkommen und sie sehen. Ich wollte ihr ein paar Dinge sagen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, Charlie, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie fort ist.»
    Ich spüre, dass sie mich ansieht, aber ich kann ihr nicht in die Augen schauen.
    «Was hat Jasper mit ihr gemacht?», fragt sie. «Weißt du das? Wo ist sie?»
    Ich starre auf meine Füße und beiße mir auf die Lippen. Der schleichende Fluch. Er stachelt mich an, mich von allem loszusprechen. Ich könnte Jasper einfach auflaufen lassen und selbst davonrennen, ihn wieder zum Sündenbock machen. Ich könnte mich aus der ganzen Geschichte tilgen, jede eigene Beteiligung, jedes Vergehen meinerseits ausradieren. Meine Hände in Unschuld waschen. Sie müsste es nie erfahren und hätte keinen Grund, mich zu hassen.
    Doch ich kann es nicht. Ich bringe es einfach nicht fertig. Ich kann es nicht mehr für mich behalten. Ich weiß, dass ich damit ein Versprechen breche, doch es hat sich so lange in mir angesammelt und aufgestaut. Jetzt ist es heraus. Es ist heraus. Ich zeige auf den Tümpel.
    «Sie ist dort drinnen. Auf dem Grund.»
    «Dort

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