Wer hat Angst vor Jasper Jones?
Aber sie wollte ihre Schwester nicht verlassen. Eliza Wishart warf einen letzten Blick auf Laura und wühlte sich dann schleunigst durch die Büsche. Natürlich war Jasper zu schnell für sie, viel zu schnell. Und er kannte den Weg zu gut. Er preschte durch den Busch und verschwand. Eliza verlor fast augenblicklich die Orientierung. Müde und einsam stolperte sie weiter und folgte den Pfaden, die am meisten begangen wirkten. Hoffnungslos verloren. Doch das spielte keine Rolle angesichts dessen, was sie gerade gesehen hatte, wasgeradepassiertwar. Eliza hatte das Gefühl, tiefer in den Busch hineinzulaufen. Als sie den Fluss erreichte, diese breite, vertraute Wasserader, brach sie zusammen. Sie fiel auf die Knie und weinte, bis sie sich in den Strom erbrach, der ihr Innenleben in gewundenen Schleifen nach Süden trug. Sie weinte vor Angst. Für Trauer war es noch zu früh. Zu nah. In ihr war etwas zersprungen und hatte ein Loch hinterlassen, das alles verschluckte und ins Nichts saugte. Sie wollte ins Wasser springen. Hinabsinken, schwimmen, sich von der schwachen Strömung davontragen lassen, es war ihr egal. Doch sie blieb, wo sie war, zu einer Kugel zusammengerollt, bis das erste Tageslicht durch das Blätterdach sickerte. Dann schleppte sie sich weiter. Sie folgte dem Fluss, in der Hoffnung, dass er sie in die Stadt führen würde. Und das tat er. Als sie die alte Brücke erreichte, war ihr Nachthemd von Brombeersträuchern und Farngestrüpp zerrissen, ihre Beine voller roter Striemen, ihre Füße nass und geschwollen. Doch sie schaffte es nach Hause, ehe Corrigan, ohne ihre Schwester, erwachte. Eliza lief über den Rasen. Das Auto war immer noch fort. Die Lichter waren aus. Vögel brachten der Sonne ein Ständchen. Erschöpft kletterte sie durch das Fenster ihres Zimmers, das sie offen gelassen hatte. Mit der Katze im Schoß lag sie auf ihrem Bett und las einen Brief, der nicht für sie bestimmt war. Er war für Jasper Jones. Es war ein wüstes Gekritzel, krakelig und gehetzt. Klein und zittrig. Eliza blutete das Herz, denn Laura hatte eine wunderschöne, saubere Handschrift. Der Brief war vernichtend. Er gab ihr den Rest. Es war die traurigste, zornigste Wortfolge, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Folgendesistpassiert: Sie hatten vorgehabt, zusammen fortzugehen, Laura und Jasper. Sie wollten zusammen in die Großstadt fliehen. Ein neues Leben anfangen. Niemand sollte davon erfahren. Und sie wollten nie zurückkommen. Trotz allem konnte sich Eliza des Gefühls nicht erwehren, verraten worden zu sein. Durch dieses ganze andere Leben, in das sie nicht eingeweiht war, diese andere Welt, diese Blase, in die sie nicht hineindurfte. Doch dann verschwand Jasper. Laura war verwirrt und verzweifelt und nahm an, Jasper habe sie im Stich gelassen. Während ich wusste, dass Jasper in jenen zwei Wochen auf den Plantagen gearbeitet hatte, nahm Laura das Schlimmste an. Dass er sie verlassen hatte und allein in die Stadt geflohen war. Dass er sie gar nicht liebte. Dass er sein Versprechen gebrochen hatte. All das hatte sich für sie bestätigt, als auf der Lichtung keine frischen Spuren von ihm zu finden waren. Die Feuerstelle war zugewachsen. Der Boden in der Baumhöhle, wo sie geschlafen hatten, unberührt. Laura hatte in jener Nacht auf Jasper gewartet. Wenn er aufgetaucht wäre, hatte sie vor, ihm etwas zu erzählen. Ihm alles zu erzählen. Und sie wollte ihn anflehen, noch vor dem Morgengrauen mit ihr fortzugehen. Denn sie war in SCHWIERIGKEITEN . Sie musste fort. Auf der Stelle. Unbedingt. Sie brauchte ihn. Weil er der stärkste Kerl in der ganzen Stadt war und sie nicht allein gehen konnte. Weil sie zusammen gehen wollten und weil etwas Heimtückisches in ihr heranwuchs. Versteht ihr? Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Eine Handvoll milchiges Gift hatte sich in ihr festgesetzt, sie befallen, und jetzt war sie in Schwierigkeiten. Etwas faulte in ihr. Schlimmer als eine Krankheit. Deshalb musste sie fort. Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Sie war verängstigt. Und in Ungnade gefallen. Denn sie hatte es endlich gewagt und den Mund aufgemacht. Spät, viel zu spät war sie endlich mit der Wahrheit herausgerückt. In jener Nacht war sie aus der Deckung gekommen. So stand es in dem Brief. Sie hatte ihre Scham hinuntergeschluckt und ihrer Mutter anvertraut, was vor sich ging, die ganze Zeit über, unter ihrem Dach. Was daraus entstanden war und in welchen Schwierigkeiten sie steckte. Sie erklärte ihrer
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