Wer hat Angst vor Jasper Jones?
seinem gewalttätigen Trinkervater, der ihn mit Fäusten traktierte und manchmal mit einem dicken Gürtel. Der seinen Lohn versoff und seine Familie hungern ließ, sodass Cooke stehlen musste, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Es ist erschreckend und traurig. Doch ich verstehe immer noch nicht. War das wirklich der Grund? Sind das die Zutaten für einen Mord? Ich sitze mit aufgestütztem Kopf da und denke an Jasper Jones. Den Waisenjungen oder so gut wie Waise. Dessen Vater ebenso kräftig säuft, wie er seinen einzigen Sohn schlägt. Der ebenfalls stehlen muss, um zu essen. Ich vermag mir nicht einmal ansatzweise vorzustellen, was sich unter seinem Dach schon alles abgespielt hat. Ich denke an Jeffrey Lu, der an jedem Tag seines Lebens gehänselt wird. Ich denke an Sam Quinn, einen Jungen in unserer Schule, der eine Hasenscharte hat. An Prue Styles, ein einsames Mädchen mit einem feuerroten Muttermal im Gesicht, das aussieht wie ein Blutfleck. Und ich denke an Mad Jack Lionel. Stelle mir sein Gesicht als Mischung aus Albert Fish und verschiedenen Filmschurken vor. Sehe ihn in der Stille der Nacht allein auf seiner Veranda. Mit seinem schiefen Gesicht und den bösen Augen. Er sucht sein mondbeschienenes Grundstück ab. Und sieht ein Mädchen im Nachthemd eilig zum Fluss laufen.
Ich schiebe meine Brille zurecht und schaue mir wieder Cooke an. Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass Menschen sich so etwas antun können. Sie können es wirklich. Wie schmal mag der Grat sein, frage ich mich. Ist es etwas, das wir alle in uns tragen? Ist es lediglich eine Frage der Anspannung und des Drucks? Ist es Pech und ein schweres Los? Zeit und Zufall? Ich kratze mir den Schädel und schniefe. Vielleicht weiß es Mark Twain.
Überraschenderweise enthält der nächste Band Cookes eigene Antwort. Das Papier ist trocken und knistert beim Blättern. Es riecht muffig. Ich blättere zur richtigen Seite. Unten in der Ecke ist ein kleiner Riss, und es überläuft mich beim Gedanken, dass ein anderer um das hier weiß. Da ist ein anderes Foto von Cooke. Diesmal sieht er eher mitleiderregend aus. Fast resigniert. Ich lese begierig. Endlich, ganz am Schluss, fragt ihn ein Journalist nach dem Warum. Warum hat er das getan? Cooke antwortete:
Ich wollte einfach jemandem weh tun.
Seufzend stütze ich das Kinn auf und schaue eine Zeitlang aus dem Fenster. Das kann es nicht sein. Das kann nicht alles sein. Ich greife nach der Zeitung vom Tag nach seiner Hinrichtung, doch ich finde keinen Bericht. Stirnrunzelnd beuge ich mich vor und überfliege die Seiten, die ich vor mir habe. Erst als ich schon mittendrin bin, erkenne ich meinen Fehler: Der 27 . Oktober 1965 . Ich bin ein ganzes Jahr zu weit.
Doch unter dem Datum bemerke ich eine Schlagzeile, die mich stutzen lässt. Ich halte inne, um mir die Brille am T-Shirt abzuputzen, dann vertiefe ich mich mit angehaltenem Atem in den Textkasten darunter.
Ich lese über ein Mädchen aus Amerika namens Sylvia Likens. Die Polizei hat sie tot auf einer schmutzigen Matratze gefunden. Sie war sechzehn, genauso alt wie Laura Wishart. Ich fühle mich in eine Richtung gezogen, von der ich mir nicht sicher bin, ob ich sie einschlagen soll, so dunkel und abstoßend wirken die Eckdaten der Geschichte. Ich fühle mich krank, kalt und leer, aber ich bin süchtig nach mehr. So sehr, dass es mich an den Zeitungsstand zurücktreibt, um sämtliche Ausgaben seit Oktober zu meinem Tisch zu tragen. Mrs. Harvey beäugt mich über den Rand ihrer Brille. Ich lasse mich auf den Stuhl plumpsen und lese weiter. Während der Wackerstein in mir immer schwerer wird, reime ich mir die Geschichte von Sylvia Likens zusammen.
Sylvias Eltern waren Schausteller und zogen häufig von einer Stadt zur anderen. Vor einigen Monaten, im Juli, sollten sie abermals zu einem Gastspiel anreisen. Da sie es sich nicht leisten konnten, alle ihre Kinder mitzunehmen, wandte sich ihr Vater an eine neue Bekannte, eine Frau namens Gertrude Baniszewski, und bot ihr zwanzig Dollar die Woche für die Betreuung von Sylvia und ihrer jüngeren Schwester Jenny. Baniszewski, die als kränkliche, strenge Frau beschrieben wurde, nahm das Angebot an, obwohl sie selbst sieben Kinder hatte und sie und ihr Mann sich nicht mehr verstanden.
Anscheinend begann der Albtraum, kaum dass sich die Tür hinter Sylvia Likens geschlossen hatte. Zunächst war Gertrude Baniszewski verdrossen und misstrauisch, dann eifersüchtig und bösartig. Sie war den Mädchen von
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