Wer hat Angst vor Jasper Jones?
gleichen Tag wurde Baniszewski verhaftet.
Ich höre auf zu lesen.
Mit am schwersten zu begreifen ist für mich, warum Jenny bis zu diesem Moment gewartet hatte, ehe sie den Mund aufmachte. Sie hatte all die Monate zugesehen, war bei jedem grausamen Akt dabei gewesen. Sie hätte die Gelegenheit dazu gehabt. War sie nicht zur Schule gegangen, während Sylvia im Haus bleiben musste? Dort hätte sie es irgendjemandem sagen können.
Doch es ist nicht nur Jenny. Es ist dieser ganze Chor des Schweigens, der mir den Hals zuschnürt. Warum hat ihr niemand geholfen? Die Nachbarschaft wusste Bescheid. Oh, ja. Die Leute von nebenan, die Vermillions, waren dort gewesen und hatten das Ausmaß von Sylvias Verletzungen gesehen. Sie hatten die Schreie und den Tumult gehört. Das Scheppern der Schaufel. Trotzdem hatten sie keinen Mucks von sich gegeben. Ist es ihnen egal gewesen? Ganze Wohnblocks voller Menschen. Ganze Dörfer. Eine ganze Stadt. Ganze Clans von Familien. Keiner von ihnen hatte ein Wort gesagt.
Und wie konnte Gertrude Baniszewski so viele Kinder anstiften, diese Taten zu begehen? Wie konnten sie Tag für Tag wiederkommen, um Unsägliches zu tun? Und wie konnten sie abends nach Hause zurückkehren, ohne dass ihnen ein Wort der Scham oder der Reue über die Lippen kam? Was hatte Sylvia Likens getan, um das zu verdienen? Oder war es einfach nur Pech und Zufall gewesen?
Das alles wallt ihn mir auf. Ich muss es gewaltsam zurückzwingen, damit es nicht überquillt.
Ich habe zu viel gelesen und zu viel gesehen. Ich bin wie benommen, wütend und verwirrt. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich möchte alles von meinen zitternden Händen waschen, möchte meinen Kopf leeren. Ich wünschte, ich könnte alles rückgängig machen, was ich erfahren habe. Mir die Erinnerung an Eric Cooke und Albert Fish austreiben und Sylvia Likens aus meinem Herzen wringen. Und Laura Wishart? Im Augenblick würde ich, ohne nachzudenken, alles aus mir herausreißen und mich für das Vergessen entscheiden. Ich würde unbehelligt in meiner ruhigen Schneekugel schlafen und Jasper Jones das Fenster nicht öffnen.
Erschöpft lasse ich den unordentlichen Stapel auf dem Tisch liegen und verlasse die Bücherei. Ich blinzle im Sonnenlicht und frage mich, wohin ich gehen soll. Ich habe den ganzen Vormittag über gelesen und mehr Fragen gesammelt als Antworten.
Ich beschließe, auf dem Nachhauseweg am Buchladen vorbeizugehen. Ich starre mir beim Laufen auf die Füße, während ich im Kopf benommen durch allzu viele Gedankengänge torkle. Ich würde gern schwimmen. Ich möchte geradewegs in den Corrigan River springen, mich treiben und meine überhitzte Haut abkühlen lassen. Ich stelle mir vor, wie ich mich mit Kies aus dem Flussbett abreibe und mich dann flussabwärts tragen lasse wie ein Floß. Oder eine Leiche.
Während mein Geist dahingleitet, stolpere ich über einen Stein, der aus dem Bürgersteig ragt. Ich falle zwar nicht hin, aber mein Rettungsversuch ist nicht weniger spektakulär. Ich taumele vorwärts wie ein Entenküken auf dem Eis. Als ich mich wieder gefangen habe und aufschaue, sehe ich Eliza Wishart vor dem Buchladen stehen. Sie wirkt amüsiert und besorgt zugleich.
«Alles in Ordnung, Charlie?»
Ich unterdrücke einen Schmerzenslaut und stemme die Hände in die Hüften. Dann zwinge ich mich zu einem Lächeln und hebe die Hand, was etwas von einem merkwürdigen Zucken haben muss, als hätte ich gerade ein Glas fremden Urin getrunken und wolle ihn empfehlen.
«Ja, nö», sage ich und richte mich auf. «Nichts passiert. Hat nicht weh getan. Überhaupt nicht. Es war bloß … Verdammter … Gemeinderat. Die Steine sind wirklich … gefährlich.»
Himmel. Ich wage nicht nach unten zu sehen. Ich muss mir glatt den großen Zeh abgerissen haben. Ich halte die Luft an. Am liebsten würde ich sterben oder heulen oder mit einem Presslufthammer auf den Fußweg losgehen.
Aber dann lächelt sie, und alle Wut verebbt. Sie ist wunderschön. Heute sieht sie ein bisschen aus wie Audrey Hepburn.
«Weißt du, am besten erzähle ich es meinem Vater. Und ich sorge dafür, dass es bei der nächsten Ratssitzung ganz oben auf die Tagesordnung kommt.»
«Äh, nein!», sage ich, als bei mir der Groschen fällt. «So habe ich das nicht gemeint, weißt du …»
«Schon gut, Charlie. Das war nicht ernst gemeint.»
«Oh.»
«Wo ist Jeffrey? Beim Cricket?»
«Nein, er hat Hausarrest und hockt daheim.»
Ihre Augen weiten sich
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