Wer hat Angst vor Jasper Jones?
hast du ausgefressen? Ich habe gestern Abend gesehen, wie dein Dad dich angeraunzt hat.»
«Na ja …» Jeffrey kichert ein bisschen und flüstert dann: «Gestern ist Mrs. Sparkman rübergekommen, um etwas auszuleihen, und gerade als Ma die Tür aufmacht, pfeift Vorsitzender Mao los und ruft:
Ma! Wir gehen in die Scheißstadt und spielen ein bisschen Cricket! Wir gehen in die Scheißstadt und spielen ein bisschen Cricket!
Sie wird natürlich rot und erzählt meiner Mutter, was das heißt und wie ordinär das ist. Der blöde Wellensittich hat mich verpfiffen.»
Ich sterbe fast vor Lachen. Jeffrey legt grinsend den Finger auf den Mund.
«Ich weiß. Es ist zum Totlachen. Aber sie ist an die Decke gegangen wie eine Rakete. Hat getobt wie ein Tornado, Chuck. Und ich sitze in der
Scheiße
. Ich darf mir nicht mal das Cricketspiel im Radio anhören. Ich drehe hier noch durch, Chuck. Weißt du, wie es steht? Ist Doug Walters schon im Einsatz?»
«Ich habe keine Ahnung.»
«Mist!», zischt er und schnipst mit den Fingern wie ein Bösewicht, den man auf frischer Tat ertappt hat. «Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen, Chuck.»
«
Ich
bin zu nichts zu gebrauchen? Was soll ich denn jetzt machen?»
«Keine Ahnung.» Jeffrey lächelt. «Zieh los und suche nach Eliza Wishart. Ihr könnt ein Picknick im Grünen veranstalten und Ketten aus Gänseblümchen flechten und – wie heißt das Wort noch mal? – euch auf der Wiese verlustieren.»
«Ich glaube, ich nehme lieber eigenhändig eine Vivisektion an dir vor.»
«Wie schwul.»
«Was soll daran schwul sein?»
«Weiß ich nicht. Aber es ist so.»
Hinter ihm schreit seine Mutter irgendetwas. Ich verstehe die Worte nicht, aber der Tonfall lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
«Ich muss Schluss machen, Chuck», sagt Jeffrey verdrossen, und ich winke ihm seufzend zu, als er die Tür schließt.
Unserer ruhigen, sauberen Straße ist nicht anzusehen, wie bedrückend sie ist: Ans Garten, die schleichende Hitze, mein wespenverseuchtes Zimmer, der Wackerstein in meinem Magen, die Teufelin, die zu Hause meinen Untergang einläutet. Ziellos beginne ich in Richtung Stadt zu laufen. Vielleicht gehe ich in die Bücherei. Oder in den Buchladen. Ich hätte etwas von meinem Ersparten mitnehmen sollen.
Als ich am Schulsportplatz vorbeikomme, schaue ich ein paar Kindern zu, die einen Drachen steigen lassen wollen. Anscheinend haben sie ihn aus Dübeln, Zeitungen und Angelschnur selbst zusammengebastelt. Ich rechne ihnen keine großen Chancen aus. Die Luft ist unbewegt wie in einem Ofen und genauso heiß. Trotzdem flitzen sie schnurgeradeaus, während der Drachen hinter ihnen herspringt und flattert. Von da, wo ich stehe, sieht es aus, als würde er sie verfolgen.
Ich erreiche die Bücherei. Bis auf Mrs. Harvey, die Bibliothekarin, ist niemand dort.
Seit ich angefangen habe, die Bücher meines Vaters zu verschlingen, habe ich hier kaum noch Zeit zugebracht, daher fühlt es sich ein bisschen so an, als würde ich eine alte Tante besuchen. Ein würziger Geruch liegt in der Luft; ich fühle mich auf der Stelle zu Hause.
Ich verbringe ein wenig Zeit damit, in der Belletristiksektion herumzustöbern, doch meine Augen gleiten über die Buchrücken hinweg. Erst als ich zur Krimiabteilung komme, macht mein Herz einen Satz, und ich bleibe stehen und sehe genauer hin. Ich ziehe Bücher heraus und klemme sie mir unter den Arm. Als sie zu schwer werden, trage ich sie zu einem Tisch in der Ecke. Ich lege den Stapel ab und schalte die Schreibtischleuchte ein. Mit einem Mal bin ich aufgeregt und entschlossen. Sämtliche Bücher enthalten wahre Kriminalgeschichten, und auf den Buchdeckeln sind körnige Verbrecherfotos oder unheimliche Straßenszenen abgebildet. Das Wort
schaurig
taucht in fast jedem Klappentext auf. Ich sehe nach, wer die Bücher vor mir ausgeliehen hat und ob es Namen gibt, die sich wiederholen. Die Schriftzüge sind undeutlich und meist unleserlich. Kein Jack Lionel. Nicht einmal jemand, den ich kenne.
Es ist eine fesselnde Lektüre. Fasziniert von ihren Geschichten, vertiefe ich mich in die Missetaten berühmter und unbekannter Killer. Ich erfahre, dass Jack the Ripper nie gefasst wurde, lese über Burke und Hare, die für Geld töteten und die Leichen an Medizinerkollegen verkauften. Wie besessen sauge ich die Worte auf. Alles wirkt so barbarisch und surreal. Dann lese ich von Albert Fish, dem Mann, den man auch den Vampir von Brooklyn nannte, von dessen
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