Wer hat Angst vor Jasper Jones?
als habe man sie nach einem vereitelten Ausbruchsversuch wieder in ihre Zelle zurückgebracht.
Mir kam schon der Gedanke, dass sie eines Tages vielleicht überhaupt nicht mehr wiederkommt. Vielleicht weigert sie sich einfach. Ich weiß, dass ihre Familie sie unter Druck setzt. Sie verwöhnen meine Mutter aus eigennützigem Interesse und halten ihr ständig vor Augen, das sie verpasst, was sie eigentlich verdient hätte. Und ich kann es ihr nicht einmal verdenken, dass sie sich davon einlullen lässt. Sie ist wohl auf diese Weise groß geworden. Dicht unter der Oberfläche schlummert noch die Person, die sie wirklich ist: ein Mädchen, das immer bekommen hat, was es wollte. Was ich ihr tatsächlich übelnehme, ist, dass sie sich unseretwegen schämt. Jedes Mal, wenn sie dieser Tage zurückkehrt, überkommt mich dieses kribbelige Gefühl: dass wir ihr nicht gut genug sind und ich ihr nicht gerecht werden kann. Mein Vater kann einen zur Raserei bringen, aber er ist ein guter, aufrichtiger Mensch. Ich weiß, wie andere Väter mit ihren Söhnen umgehen, und mir ist klar, dass ich Glück gehabt habe. Und was meine Entstehung angeht, so hatte ich keine Wahl. Ich war schlecht getimt, ein Zufall. Ich war Pech. Aber es war nicht mein Fehler.
Ich stoße meinen Spaten in den harten Lehmboden und denke über die Verhältnisse nach, in die meine Mutter hineingeboren wurde. An ihr Los und ihr Leben. Als ob es abgesehen davon sonst noch einen Unterschied gäbe zwischen den Menschen. Was spielen diese Dinge für eine Rolle? Ich weiß es nicht. Und was ist mit Eric Edgar Cooke? Wie haben sich Timing und Zufall bei
ihm
ausgewirkt? Wenn er in Nedlands zur Welt gekommen wäre wie meine Mutter, hätte er den Ort dann Jahre später auch heimgesucht? Hätte er dann auch solchen Schrecken in den Straßen verbreitet?
Ich halte inne und wische mir die Stirn. Meine Hand wird schweißnass. Ich könnte sie ablecken, so durstig bin ich. Was soll aus diesem verdammten Loch werden? Ein Teich für Koikarpfen? Ein Schutzbunker? Ich bin überhitzt und verdreckt und habe die Nase gestrichen voll. Der Lehm ist hart und schwer. Der Erdhaufen zu meiner Rechten hat ein freches Kookaburra-Pärchen angelockt, das ich mit Erleichterung begrüße. Sie wühlen in der Erde und laben sich an den Insekten. Ich halte inne, um zuzusehen, wie einer von ihnen einen Regenwurm verschlingt.
«Gern geschehen», sage ich.
Der Vogel hebt den Kopf und scheint mich mitleidig anzusehen. Sein Freund flattert plötzlich zu einem Baum in der Nachbarschaft, um sich dort über mein Unglück kaputtzulachen.
«Dein Freund ist ein undankbarer Bastard», knurre ich. Der Vogel sieht mich mit klugen Augen an und scheint mit den Schultern zu zucken.
Kopfschüttelnd fahre ich fort, halbe Spatenladungen karamellfarbenen Lehms auszustechen. Mir fällt auf, wie still es in unserer Straße ist. Normalerweise müsste der Teufel los sein, aber draußen ist es ruhig wie in einer Kirche.
Ein paar Stunden später habe ich mich bis zu den Oberschenkeln eingegraben. Der Schmerz meiner aufgeplatzten Blase ist jenseits von Gut und Böse. So kann es unmöglich noch lange weitergehen. Das hier ist wie in einem Roman von Charles Dickens. Sicher schützt mich die Genfer Konvention davor, noch länger graben zu müssen.
Ich mache weiter.
Und ich denke wieder über Cooke nach und über seine schlichten, bitteren Beweggründe. Er wollte einfach jemandem weh tun. Es klingt so rachsüchtig. Ging es wirklich darum? Wollte er dort draußen über eine andersgeartete Version seines Vaters herfallen? Setzte er sich mit anderen Mitteln zur Wehr? Aber warum lauerte er dann Frauen auf? Warum nahm er sich Unschuldige zum Opfer, so, wie es sein Vater mit ihm gemacht hatte? Das ergibt keinen Sinn. Also war es vielleicht das Machtgefühl, auf das er aus war? Nachdem man ihn sein Leben lang wie Dreck behandelt, ihn geschlagen hatte und auf ihm herumgetrampelt war, wollte er den Spieß einfach umdrehen. Vielleicht wollte er in die Haut seines Vaters schlüpfen. Die Rollen vertauschen. Endlich oben sein. Er wollte, dass Menschen
ihm
ausgeliefert waren, wollte
ihnen
weh tun. So, wie man ihm weh getan hatte. Vielleicht sollte eine ganze Stadt diese Angst kennenlernen. Konnte das wirklich der Grund sein? Und könnte für Mad Jack Lionel das Gleiche gelten?
Laura Wishart ist tot. Jemand hat sie umgebracht. Das ist alles, was ich mit Sicherheit weiß.
Ich muss Jasper Jones sehen. Und Eliza Wishart. Ich muss mehr über
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